Donnerstag 11. September 1986 10.30 Uhr. Der Ü-Wagen des Hessischen Rundfunks hat das schwere Rolltor des Flüchtlingslagers Schwalbach am Taunus passiert und hält vor einem großen Zelt. Es dient als Gemeinschaftszelt. Dieses und weitere 19 Zelte hatte der hessische Sozialminister Armin Clauss (SPD) innerhalb des Barackenunterkunft aufbauen lassen. Offizielle Begründung: Die Aufnahmekapazität des Landes für Asylbewerber ist erschöpft. Das hatten die Solidaritätsgruppen, die um das Lager herum entstanden waren, nicht akzeptiert. Sie waren seit Wochen dagegen angegangen. Als nichts half, war ich nach einem ökumenischen Gottesdienst im Lager geblieben und hatte mich auf einen Hungerstreik eingestellt, bis die Zelte wieder abgebaut würden. Der 11. September war der 5. Tag. Mittlerweile ist der Funkmast ausgefahren, ein Tisch und eine Bank vor dem Zelt aufgestellt. Ulrike Holler hat den Kopfhörer aufgesetzt und wartet auf die Anmoderation aus dem Funkhaus im Rahmen der Sendung „Unterwegs in Hessen“. Ich sitze ihr gegenüber. Die Katholische Nachrichtenagentur macht ein Foto, das einzige, das ich von Frau Holler besitze. HOLLER: „Seit Sonntag, Herr Leuninger, haben Sie nichts mehr gegessen, wie geht es Ihnen?“ ANTWORT: „Kopf ist klar, mein Körper ist etwas schwach.“ … HOLLER: „Der Sozialminister hat Sie hier nicht besucht während Ihres Hungerstreiks, aber er hat einen Brief geschrieben. Darin wird der Vorwurf geäußert, auch in den Kirchengemeinden gäbe es Stimmen gegen die Asylbewerber. Dort sollten Sie agieren, nicht aber hier. Die Zelte seien keine Abschreckungspolitik.“ ANTWORT: „Ich mache den Minister verantwortlich als Vertreter der Landesregierung, dass solche Maßnahmen ergriffen werden, die der Bevölkerung signalisieren: Das Boot ist voll, wir wollen keine (Flüchtlinge) mehr, wir können keine mehr aufnehmen.“ Am gleichen Tag kommt dann nachmittags die Nachricht aus dem Sozialministerium: Die Zelte werden abgebaut! Ich kann mir meine Tätigkeit ohne den Hessischen Rundfunk und ohne Ulrike Holler überhaupt nicht vorstellen. 20 Jahre lang war ich Migrations-Referent des Bischofs von Limburg und in den letzten Jahren meiner aktiven Zeit auch Sprecher der Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL. Immer dann, wenn in der ziemlich konfliktträchtigen Arbeit „Not an der Frau“ war, konnte ich mit Ulrike Holler rechnen. Dabei bedurfte es nie langer Erklärungen oder einer motivierenden Verständigung. Wenn sie aus dem Funkhaus anrief, oder, sich zu einem Interview verabredet hatte, verlief alles ohne besondere Absprachen. Dabei war Ulrike Holler immer präzise, hellhörig, kritisch und sehr sensibel. Darüber hinaus besaß sie die richtige Rundfunkstimme, mit der sie Hörerinnen und Hörern aufmerksam und nachdenklich machen konnte. Ich durfte absolut sicher sein, dass sie das Thema in seiner humanen Dimension aufnahm. Ich brauchte keinerlei Sorge zu haben, sie würde ein Anliegen missverstehen oder allzu wohlfeile oder billige Akzente setzen. Immer, wenn sie ein Thema behandelte, tat sie dies mit Kompetenz und ohne Einseitigkeit. Das ist meine unmittelbare Erfahrung, wobei ich in den Jahren, in denen ich immer wieder die Öffentlichkeit suchte, unzählige Medienkontakte mit Frau Holler hatte. Öffentlichkeit für alle Facetten des Humanen her zu stellen, das war ihre Berufung. Es bedeutete, sich in eine unglaubliche Fülle von Themen einzuarbeiten und eine unübersehbare Vielfalt menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Fragen und Anliegen einzufühlen. Um mich auf das zu beschränken, was in der Ausländer- und Flüchtlingsarbeit anstand, dann waren es die Themen wie Einwanderung, Integration, Familienzusammenführung, Wohnung, vor allem auch Schule und Ausbildung. Es ging um eine neuartige multikulturelle Gesellschaft, aber auch um alle Formen der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus. Als das Flüchtlingsthema große politische Brisanz bekam, war Ulrike Holler immer wieder im Auge des Taifuns ohne zu wanken oder zurück zu weichen. Sie stellte sich der Diskussion, wie viel Flüchtlinge die Bundesrepublik aufzunehmen hätte, wie die Asylverfahren verlaufen sollten , wie es um die Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber bestellt war und wie die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöht werden könnte; Frau Holler gab der Kritik an der repressiven Asylpolitik breiten Raum; sie war präsent, wenn es um Abschiebungen ging. Hierbei richtete Ulrike Holler auch immer wieder die Aufmerksamkeit auf Menschen, Gruppen, Schulklassen und Organisationen, die sich mit Flüchtlingen solidarisierten. Ulrike Holler hat im Grunde beharrlich vorgeführt, was es heißt, Öffentlichkeit für diejenigen her zu stellen, die normalerweise nicht im Rampenlicht stehen. Sie hat keine Gelegenheit ausgelassen dies zu tun. Das hieß, nicht so sehr aus der Sicht einer unaufgeklärten Öffentlichkeit und einer immer populistischer werdenden Politik zu informieren, sondern Fakten und Einstellungen aus dem Blickwinkel der Betroffenen und derer, die sich mit ihnen verbündet hatten, zu vermitteln. Bei den vielen hundert Interviews, die ich ich in den vergangenen Jahrzehnten zu geben hatte, habe ich einen auf diesen Grundlagen beruhenden Journalismus kennen und schätzen gelernt und zwar in allen Medien. Es war allerdings nicht der Mehrheitsjournalismus, sondern ein Journalismus, der selbst Eigenschaften von Minderheiten an sich trug. Ohne diese engagierte Berichterstattung aus der Sicht der Menschenrechte, wäre es in dieser Republik seit geraumer Zeit nicht auszuhalten gewesen. Und der Niedergang einer humanen Kultur, wie er mir sinnfällig in dem Aufbau der Flüchtlingszelte vorgeführt wurde, wäre vielleicht doch dramatischer und ungehemmter vor sich gegangen. An dieser Stelle noch eine sehr persönliche Bemerkung: Für mich war das Mikrofon, wie es mir gerade auch von Ulrike Holler immer wieder unter die Nase gehalten wurde, ein geradezu therapeutisches Instrument, das es mir in meiner Rolle als Sprecher der „stimmlosen“ Flüchtlinge, erlaubte, deren Nöte nicht nur zu artikulieren, sondern sie bisweilen geradezu heraus zu schreien. Diese Möglichkeit hat mich davor bewahrt, ich denke vor allem an die Zeit, in der eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages das Grundrecht auf Asyl aushöhlte, psychisch zu überleben. Ulrike Holler hatte die Chance, sich in einer Einrichtung, wie dem Hessischen Rundfunk, zu verwirklichen. Dabei habe ich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, eben auch den als „Rotfunk“ verschrieenen Hessischen Rundfunk, immer wieder als eine der wichtigsten Nachkriegserrungenschaften erlebt, die wir den Alliierten nach dem Modell der BBC verdankten. Ich erinnere an dieser Stelle, dass der Hessische Landtag am 2. Oktober 1948 das Gesetz über den Hessischen Rundfunk verabschiedet hat. Dabei wurde dem Rundfunk die Aufgabe gestellt, die Nachrichten bildender, unterrichtender und unterhaltender Art in einer Grundversorgung von Bürgerinnen und Bürgern zu leisten. Die Sendungen sollten nicht nur nicht gegen die Verfassungen und Gesetze verstoßen. Sie sollen dem Frieden, der Freiheit und der Völkerverständigung dienen. Mit einem Verbot belegt waren Sendungen, die Vorurteile oder Herabsetzungen der Nationalität, Farbe und Religion oder Weltanschauung enthielten, sind nicht gestattet. In diesem Rahmen hat sich Ulrike Holler bewegt. Sie hat ihn in optimaler Weise ausgefüllt. Dabei hat sie der manchmal vielleicht staunenden politischen Klasse vorgeführt, was journalistische Unabhängigkeit bedeuten kann. Schließlich hat sie in ihrer Zeit sehr unterschiedliche Landesregierungen und Landtagskoalitionen erlebt. Regierungen sind auf die eine oder andere Weise immer in der Versuchung, die Massenmedien nicht nur einzusetzen, das ist ihr gutes Rechts, sondern in ihrem Sinne zu manipulieren, nicht zuletzt vielleicht durch die Personalpolitik. Soweit ich das miterlebt habe, hat Ulrike Holler ihre klare und jederzeit kritische Position trotz aller Farbvarianten von Rot, Rot-Gelb, Rot-Grün, Schwarz-Gelb und Schwarz beibehalten. Gestaunt hat allerdings auch unsereiner – und hier erinnert sich meine langjährige Mitarbeiterin noch an Diskussionen im Freundeskreis -, dass sie als First Lady an der Seite von Oberbürgermeister Andreas v. Schoeler (SPD) nicht nur ihren wichtigen Repräsentationspflichten nachgekommen ist, sondern gleichzeitig in gewohnter Weise im Hessischen Rundfunk tätig war. Das war ein medialer Spagat, wie man ihn sich theoretisch nur schwer vorstellen kann. Ulrike Holler hat es – wohl nicht ohne Konflikte – geschafft. Ich erkläre mir das damit, dass sie eine autonome Persönlichkeit ist, die überdies ihren Hörfunkberuf über alles geliebt hat. Vielleicht wird aber das, was sie bisher erlebt hat, in den Schatten gestellt durch das, was man heute die Boulevardisierung der Medien nennt. Ich übersetze diesen Begriff einmal in eine etwas verständlichere Form. Boulevardisierung der Medien kann man verstehen als ihr Flanieren auf der Prachtstraße des Kapitalismus. Auf diese Straße haben sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten spätestens seit der Etablierung der privaten Sender geschlichen und tummeln sich dort mittlerweile ohne jede Scham. Die Boulevardisierung zeichnet sich vor allem durch einen gewissen Verfall journalistischer Standards aus, etwa in der Frage der umfassenden Recherche, in der Wahrung ethischer Grundsätze, in der Objektivität, dem analytischen Tiefgang, vielleicht auf in der thematischen Einschränkung, in fehlender Kritik, der Überbetonung von Unterhaltung und Sensationsmeldungen, nicht zuletzt der Ausblendung von Anliegen der Minderheiten. Hier dürfte es dann auch der Moderatorin Holler immer schwerer geworden sein, ihre „Nischen – Themen“, wenn ich das so sagen soll, einzubringen. Diese Themen noch in der Redaktion durchzusetzen, hat sie offensichtlich versucht und auch durch ihre Kompetenz und Überzeugungskraft immer wieder erreicht. Auch dies ist eine bedeutsame journalistische Leistung, die für die Zukunft von Bedeutung ist. „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“ heißt es. Wir erinnern uns an Bilder und Gerüche. Der Ton verhallt. Wir haben ein kaum ausgeprägtes akustisches Gedächtnis. Seit der Erfindung des Stummfilms, erst recht seit der Einführung des Fernsehens werden auch die Häupter der Mimen mit Lorbeer geziert. Denken Sie an die kürzliche Verleihung des bayerischen Fernsehpreises 2005 in der großen Gala aus dem Prinzregenten-Theater in München, wo Schauspieler von Theater, Film und Fernsehen, Moderatoren, aber auch Produzenten, Regisseurinnen und Regisseure geehrt wurden. Wo bleibt die Ehrung für heraus ragende Funkjournalistinnen und -journalisten? Die Humanistische Union Marburg und der Magistrat der Universitätsstadt Marburg haben diesem Defizit abgeholfen, in dem sie einer Anker-Frau des Hörfunks das „Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte“ verleihen. Ich selbst freue mich darüber und bin dankbar dafür, bei dieser offiziellen Gelegenheit Ulrike Holler meine besondere Verehrung ausdrücken zu können. Hätte ich es bei anderer Gelegenheit getan, wäre es vielleicht als Lobhudelei verstanden worden. Als Laudatio sollte es ernst genommen werden.
Ulrike Holler – Engagement für Sozial Benachteiligte – Laudatio von Herbert Leuninger
Herbert Leuninger