Sigrid Arnade: Was wäre die Welt ohne Ottmar Miles-Paul?

Sigrid Arnade spricht zum Publikum

Sigrid Arnade würdigt Ottmar Miles-Paul. Bild: Amelie Berting

Ottmar Miles-Paul hat am 3. Juni 2024 das „Marburger Leuchtfeuer“ erhalten. Prof. Dr. Sigrid Arnade von der ISL würdigte seine Verdienste für die Selbstbestimmung Behinderter.
Lieber Ottmar, sehr geehrte Frau Dreyer, sehr geehrte Herren Spies und Vaupel, lieber Franz-Josef, meine Damen und Herren,
vieles wurde bereits über die Verdienste von Ottmar Miles-Paul vorgetragen, und ich wurde um eine kurze Ergänzung für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, kurz ISL gebeten. Mein Name ist Sigrid Arnade. Ich bin ISL-Sprecherin für Gender und Diversity und war die letzten zehn Jahre meines Berufslebens ISL-Geschäftsführerin, ein Job, den Ottmar Miles-Paul bis 1999 bekleidete. In dieser Zeit hat er die ISL zu einer nicht mehr wegzudenkenden Größe in der deutschen Behindertenszene aufgebaut.
Um das Wirken des heute zu Ehrenden annähernd vollständig darzustellen und zu würdigen, könnte ich die bisherigen Ausführungen mindestens eine Stunde lang ergänzen. Aber zum einen lockt ja der Sektempfang, zum anderen mag Ottmar Miles-Paul es gar nicht so gerne, im Mittelpunkt zu stehen, entsprechend soll es nur eine kurze Ansprache sein.
Also bin ich die Aufgabe von der anderen Seite angegangen und habe mich gefragt, wie die Welt behinderter Menschen in Deutschland ohne Ottmar Miles-Paul aussähe. Man sagt ja immer, dass jeder Mensch ersetzbar sei. Das mag auf 99,99 Prozent der Menschen zutreffen, auf Ottmar nicht. Ich kenne jedenfalls niemanden, der so beharrlich, ausdauernd, uneitel, unfrustrierbar seit Jahrzehnten für die gute Sache, für ein gleichberechtigtes Leben behinderter Menschen kämpft.
Was hätten wir also für eine Situation in Deutschland ohne das unermüdliche Engagement von Ottmar Miles-Paul? Das möchte ich mit zehn Schlaglichtern verdeutlichen:
1. Vermutlich würde in unserem Grundgesetz ein wichtiger Satz fehlen, nämlich der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.
Danke Ottmar, dass du wesentlich zu dieser Grundgesetzergänzung von 1994 beigetragen hast!
2. Die Aktion Sorgenkind würde nach wie vor Spenden für die Sorgenkinder sammeln und aus ihren Lotterieeinnahmen den Auf- und Ausbau von Großeinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen unterstützen. Danke Ottmar, dass du uns davor bewahrt hast!
3. Im Deutschen Behindertenrat würde die 3. Säule der Selbstvertretungsverbände fehlen.
Danke Ottmar, dass menschenrechtsorientierte Selbstvertretungsorganisationen neben den Sozialverbänden und den oft eher medizinisch ausgerichteten Selbsthilfeorganisationen eine gleichberechtigte Stimme in der deutschen Behindertenpolitik haben!
4. Wir hätten entweder kein Behindertengleichstellungsgesetz oder hätten es erst viel später bekommen. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – AGG würde das Merkmal Behinderung fehlen.
Danke Ottmar für deinen unermüdlichen Einsatz und deine vielfältigen phantasievollen Kampagnen!
5. Es gäbe keine Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die immer noch von allen ohne die geringsten Skrupel als geistig behinderte Menschen bezeichnet würden.
Danke Ottmar, dass du dich auch hier für die Selbstvertretung und die sprachliche Sensibilisierung eingesetzt hast!
6. Vermutlich gäbe es das Bildungs- und Forschungsinstitut zum sebstbestimmten Leben behinderter Menschen, kurz bifos und damit die regelmäßigen Weiterbildungen zu Peer Counselor*innen nicht.
Danke Ottmar, dass du den Peer Counseling-Ansatz unbeirrt verfolgt hast, bis er durch die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung – EUTB seine späte Anerkennung erfahren hat!
7. Erst sehr viel später, wenn überhaupt, hätte es Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Bundes- und Länderebene gegeben.
Danke Ottmar, dass du als Landesbehindertenbeauftragter von Rheinland-Pfalz dafür gesorgt hast, dass dieses Bundesland bereits ein Jahr nach Inkrafttreten der Konvention im März 2010 mit guten Beispiel voranging und einen ersten Aktionsplan vorlegte!
8. Kobinet wäre ein Fremdwort. Es gäbe diesen täglichen digitalen Nachrichtendienst nicht, der rein ehrenamtlich betrieben wird.
Danke Ottmar, dass du diese Quelle der Informationen über aktuelle behindertenpolitische Themen auch in Phasen größter Anspannung nie versiegen lässt!
9. Das Bundesteilhabegesetz hätte die Möglichkeiten behinderter Menschen, ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Einrichtungen zu führen, weiter eingeschränkt.
Danke Ottmar, dass du ein solches Szenario unter anderem durch eine Nacht am Reichstagsufer und einen Sprung in die Spree verhindert hast!
10. Der 5. Mai wäre alljährlich ein Tag wie jeder andere, ohne Demonstrationen und bunte Aktivitäten behinderter Menschen.
Danke Ottmar, dass du 1992 als Hauptakteur diesen Protesttag für die Gleichstellung und gegen Diskriminierung Behinderter initiiert hast, seither viele Aktivitäten am 5. Mai organisiert hast und nicht müde wirst, diesen Tag mit Leben zu füllen!
Sie sehen, meine Damen und Herren, ohne Ottmar wäre unsere Welt um vieles ärmer. Deshalb ein letztes Dankeschön:
Danke Ottmar dafür, dass du seit Jahrzehnten und hoffentlich noch ganz lange ein nie verlöschendes Leuchtfeuer warst, bist und bleibst!

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