Ein Leuchtfeuer von Frieden – Laudatio von AM-Geschäftsführer Dieter Gutschick

Die Laudatio auf die Preisträgerin Sabriye Tenberken hat der AM-Geschäftsführer Dieter Gutschick am 26. April 2009 im Historischen Saal des Marburger Rathauses gehalten.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Vaupel,
liebe Freunde der Humanistischen Union,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Frau Sabriye Tenberken, liebe Glücksblume „Kelsang Meto“,
das jüngste Buch von Horst Eberhard Richter trägt den Titel „Die seelische Krankheit Friedlosigkeit ist heilbar“. Der Psychoanalytiker knüpft hier an eine Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker an, die dieser 1967 zur 100-Jahr-Feier der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel zum Thema gehalten hat „Die Friedlosigkeit als seelische Krankheit“.
Friedfertig ist, sagt Weizsäcker, „wer Frieden um sich entstehen lassen kann. Das ist eine Kraft, eine der größten Kräfte des Menschen. Ihr krankhaftes Verkümmern – fast stets bedingt durch mangelnden Frieden mit sich selbst – ist die Friedlosigkeit.“ (soweit von Weizsäcker).
Diese Definition enthält eine Deutung, die den gestifteten Unfrieden als Projektion von Selbsthass ansieht. Diese aus Selbsthass geborene Friedlosigkeit ist laut Richter heilbar, wenn der Mensch die im Leiden steckende Kraft annehmen kann. Leiden-können und Lieben-können seien ganz nah beieinander.
Man wird dieser Kraft gewahr, wenn man sein Herz öffnet. „Erst dann kann man ein ganzer Mensch sein.“
So hat auch Nelson Mandela beschrieben, wie er als zermürbter Häftling bei einem seiner weißen Wächter einmal dessen Mitgefühlt spürte und wie er augenblicklich wusste, dass Schwarze wie Weiße gemeinsam von der Unterdrückung ihrer Menschlichkeit befreit werden müssten.
Es mag Sie verwundern, dass ich die Verleihung des Marburger Leuchtfeuers für soziale Bürgerrechte an Frau Sabriye Tenberken mit diesen Worten und Zitaten einleite. Doch wer die Lebenslinien von Frau Tenberken nachzeichnet, findet die eingangs geäußerten Gedanken bestätigt:
Sie haben bereits als junge Frau von unter 40 Jahren ein „Leuchtfeuer von Frieden“ um sich entstehen lassen und damit eine Kraft entwickelt, die beispielhaft weiterwirkt. Sie haben mit Ihrer friedfertigen pädagogischen Sozialarbeit in Tibet ein weltweit wirkendes Beispiel gegeben, dass keinen Raum für Gewalt oder Aggression zulässt.
In Ihrem Buch „Mein Weg führt nach Tibet“ beschreiben Sie Ihre Erfahrungen in einer sogenannten integrativen Schule in Bonn: Lehrer wie Mitschüler verhielten sich „merkwürdig und manchmal auch böswillig“. Die Mitschüler hatten, so schreiben Sie weiter, „offensichtlich Angst, sich mit Blindheit auseinanderzusetzen“. Sie sprechen zwar nicht von Selbsthass, aber bestätigen in der Tendenz die Interpretation von Horst Eberhard Richter.
Keinen hätte es gewundert, wenn Sie, Frau Tenberken, sich aufgrund der negativen Erfahrungen ins Private hätten zurückziehen wollen. Doch wollten Sie sich nicht – wie es die Psychologen bezeichnen – „im gemütlichen Elend“ aufhalten. Denn der Rückzug in die vertraute Umgebung der Familie, so führen Sie weiter aus, hätte damals „nicht die Integration, sondern die Isolation bedeutet“.
Erst in der Blindenstudienanstalt in Marburg, der BliStA, erlebten Sie dann die ersehnte Gleichheit, denn Sie waren eine unter vielen gleich Betroffenen, mit denen Sie Ihre Erfahrungen austauschen konnten. Sie wollten gerade keine Sonderstellung und lehnten das Getue um Ihre Erblindung schon als Kind völlig ab.
„Ich will kein Mitleid, ich will Respekt“, könnte auch für Sie ein treffendes Leitmotiv sein, das die Aktion Mensch, als sie noch „Sorgenkind“ hieß, als programmatischen Satz für die Einleitung ihres eigenen Änderungsprozesses einsetzte.
Aufgrund Ihrer teilweise negativen Erfahrungen, liebe Frau Tenberken, hätte man auch erwarten können, dass Sie von den Menschen abgeschreckt sind und ihnen misstrauisch begegnen. Nein: Nachdem Sie im Studium der Tibetologie alle Schwierigkeiten überwunden und eine spezifische Brailleschrift entwickelt hatten, haben Sie eben nicht gesagt: „Prima, das war’s dann“. Vielmehr reisten Sie 1997 nach Tibet, um zu sehen, was sich machen ließe und wie das von Ihnen entwickelte tibetische Braille schnell einer größeren Gemeinschaft von betroffenen Kindern zugänglich gemacht werden könnte.
Und obwohl Sie in Ihrer Jugend auch schlechte Erfahrungen gemacht hatten, reisten Sie gegen alle Ratschläge allein nach Tibet. Aufschlussreich sind Ihre eigenen Aussagen hierzu: In Ihrem längeren Interview mit dem Tagesspiegel führen Sie dazu aus: „Als Blinde muss man sowieso Vertrauen haben, und unseren blinden Kindern sage ich angesichts der gefährlichen Straßen: Keine Angst, die Leute helfen Euch rüber.“
Und auf die Frage „Wie merken Sie, dass Sie jemandem vertrauen können“, antworteten Sie entwaffnend: „Ich vertraue so ziemlich jedem. Das geht sogar soweit, dass ich beim Bezahlen das Portemonnaie offen hinhalte und sage: Such dir aus, was du brauchst! Die Leute sind so überrascht über dieses Vertrauen, dass sie es nicht missbrauchen. Wenn Du dich als blinder Mensch mit Selbstverständlichkeit bewegen willst, führt Misstrauen zu nichts.“
Auch als ich das 2. Kapitel in Ihrem Buch „Mein Weg führt nach Tibet“ las, in dem Sie, liebe Frau Tenberken, ein Gespräch mit dem Busfahrer vor Ihrem Flug nach Peking am Frankfurter Flughafen wiedergeben, war ich begeistert und sprachlos zugleich.
Ich muss Ihnen die Passage vorlesen, da sie höchst aufschlussreich über unsere Preisträgerin Auskunft gibt: (Seite 18 bis Seite 19 oben:)
„Wohin soll es denn gehen?“, fragte der Elektrowagen-Fahrer interessiert. (bis) .Die anderen, die ignoranten und arroganten, wollen sich doch gar nicht mit einem Blinden abgeben“
„Das leuchtet mir ein“, sagt er schnell, denn er gehörte natürlich auch zu der angenehmen Sorte.
Und nun zu uns hier: Auch wir Sehenden gehören wohl durch die Bank zur skeptischen Gruppe der Bedenkenträger. Was mutet sich Frau Tenberken zu? Ist es nicht tollkühn und ist es nicht vermessen? Ist es nicht anmaßend, sich auf die Hilfe der Anderen verlassen zu müssen?
Doch je mehr ich darüber nachdenke, umso besser kann ich Sie verstehen, liebe Frau Tenberken. Es ist wie beim Dialog im Dunkeln: „Die Sehenden sind blind“ und die blinde Frau Tenberken weiß, wo es lang geht. Sie sind die Fachfrau in eigener Sache.
Offensichtlich gestärkt von vielen guten Erfahrungen und ausgestattet mit einem großen Selbstbewusstsein, sind Sie in der Lage, die Hilfe anderer anzunehmen, ja sogar zu erwarten. Die Blindheit macht Sie stark.
Sie haben die Größe, das Angebot von Hilfe zu wünschen. Sie orientieren sich an einem humanistischen Menschenbild, bei dem sich allerdings Vertrauen sehr wohl von Gutgläubigkeit deutlich unterscheidet.
Wie die weitere Beschreibung Ihrer Reise und Tätigkeit in Tibet zeigt, sind Sie eine realitätsorientierte Persönlichkeit, keine Träumerin, vielmehr ausgestattet mit einem guten, doch keinesfalls naiven Bild vom Menschen. Bei Ihnen wird das, was Alfred Adler als „Gemeinschaftsgefühl“ bezeichnet, manifest, wahrscheinlich hervorgerufen durch das Vertrauen und die Stärkung, die Sie durch die Erziehung Ihrer Eltern erfahren haben. Mit dieser optimistischen Sicht und diesem Menschenbild treten Sie dem anderen gegenüber, der in seiner eigenen Mitmenschlichkeit gar nicht anders handeln kann, als Sie es von ihm erwarten.
Und Sie haben jeden Grund, diesen Anspruch mit guten Gewissen zu erheben. Denn das, was Sie zurückgeben, ist sehr viel mehr, als jeder Einzelne, der Ihnen begegnet, erwarten kann: In dem Augenblick, als Sie Ihre tibetische Brailleschrift – zunächst für den Eigenbedarf – erfunden hatten und durch einen tibetischen Gelehrten der Universität Bonn bestätigt erhielten, dass sich dieses Braille durchaus zur Verbreitung in Tibet eigne, war bei Ihnen die Sehnsucht geboren: Das Gefundene an viele andere weiterzugeben. Nun ist es eine Ihrer herausragendsten Eigenschaften, dass Sie es bei der Sehnsucht nicht belassen, sondern diese stillen wollen und dies in einer Weise, die wir „Normal-Sterblichen“ für völlig unrealistisch und utopisch halten.
Hier werde ich an den „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupery erinnert, der sagt: „Wenn Du mit anderen ein Schiff bauen willst, so beginne nicht, mit ihnen Holz zu sammeln, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem Meer!“
Zwar sind Ihnen immer wieder Menschen begegnet, bei denen keine Sehnsucht zu wecken war. Ich denke da an die von Ihnen wunderbar humorvoll beschriebenen Experten einer internationalen Hilfsorganisation, die nichts verstanden, in denen Sie nichts bewegen konnten. Die sich als „Experten“ fühlten, obwohl das einzige, was sie im Übermaß hatten, Ignoranz zu sein schien.
Mit Witz sprechen Sie später dann über die „Fachköpfe“ der Hilfsorganisationen. Vielleicht dachten Sie auch an „Flachköpfe“ oder Schlimmeres.
Aber durch Ihre gradlinige Haltung und Ihre positive Ausstrahlung wecken Sie immer wieder bei vielen anderen die Sehnsucht nach dem „Meer“. In Ihrem Fall steht Meer für Zuwendung und internationale Solidarität, Nähe und grenzüberschreitende Geschwisterlichkeit.
Ich denke da an Ihre nachhaltige Begegnung mit der Tibeterin Dolma und natürlich mit Paul Kronenberg, Ihrem großartigen Lebenspartner, bei denen Sie erfolgreich die Sehnsucht geweckt haben.
Seit 1999 haben Sie jedes Jahr mindestens eine nationale oder internationale Auszeichnung, Ehrung oder einen Orden erhalten. Bis 2006 ist mir eine Statistik von insgesamt 17 derartigen Preisen bekannt.
Mag dies heute der 18. oder 22. sein, dieser Ehrenpreis der Humanistischen Union Marburg ist von Gewicht und Bedeutung und es freut mich, dass Sie ihn erhalten. Die Humanistische Union bezeichnet den Preis als „Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte“. Leuchtfeuer werden als Lichtquellen definiert, die in gleichmäßigem Rhythmus Lichtsignale abstrahlen. So wie ich Ihre Arbeit kenne, sind Sie, liebe Kelsang Meto, eine wirkliche Glücksblume, das Leuchtfeuer selbst. Sie geben Orientierung und durch das Vorleben einer konkreten Utopie zugleich Bodenhaftung.
Es freut mich auch, dass ich um die Laudatio gebeten wurde. Zwar sagte ich Herrn Hanke, als er mich darum bat, dass ich zwischen Panik und Freude schwanke. Panik allerdings nur wegen des Zeitdrucks, drei Tage vor meinem Ruhestand, zumal mein beruflicher Abschied mich doch ganz schön absorbiert. Doch nahm ich dann das Angebot der Humanistischen Union gerne an. Denn irgendwie schließt sich für mich hier der Kreis:
Im Studium war ich in Bonn in der Humanistischen Studenten-Union aktiv, nachdem ich aus einem dreimonatigen Arbeits- und Studienaufenthalt in Ghana zurückgekehrt war, wo mich der platte Rassismus „ganz normaler deutscher Geschäftsleute“ in den Grundfesten erschüttert hatte. Dies war 1966 und hat bei dem „braven“ Jurastudenten aus bürgerlichem Haus dann doch ein nachhaltiges Erdbeben ausgelöst und mich zum 68er prädestiniert. Durch meinen Bezug zum Humanismus konnte eine – wie auch immer geartete Ideologie – bei mir keine Beute machen.
Fritz Bauer, der Mitbegründer der Humanistischen Union – er war ein im Nazi-Reich Verfolgter, der später in Hessen Generalstaatsanwalt wurde, und dem der Auschwitz-Prozess zu verdanken ist – Fritz Bauer also war mein Vorbild. Wir wollten die Befreiung des Menschen von den Fesseln der obrigkeitsstaatlichen Bindungen erreichen.
Damals stand zum Beispiel auch eine Liberalisierung des Strafrechts im Vordergrund. Heute geht es in der Humanistischen Union auch um die Forderung nach politischer Partizipation der Bürger.
Diese stärkere Beteiligung kann auch und sollte gerade durch ein höheres Engagement der Menschen in der Gesellschaft und für diese realisiert werden. Die Aktion Mensch geht mit ihrer Kampagne dieGesellschafter.de in dieselbe Richtung.
Ausgehend von der Frage „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben““ lenkt die Gesellschafter-Initiative ihr Gesichtsfeld auf die gesamte Gesellschaft, die allgemeinen sozialen Rahmenbedingungen und fördert das ehrenamtliche Engagement auch finanziell.
So wichtig die Freiheitsrechte für die Entwicklung der Menschen und der Menschheit sind und waren, so notwendig und zunehmend wichtig ist die Betonung der sozialen Bürgerrechte als ein Teil der Menschenrechte. Deshalb freut es mich, dass die Humanistische Union in Marburg ihren Ehrenpreis dem sozialen Engagement widmet.
Mit Sabriye Tenberken hat die Humanistische Union eine überragende und vorbildliche Preisträgerin ausgewählt. Niemand konnte besser als Sie, Frau Tenberken, der Dämonisierung des Blindseins in der stark religiös geprägten Landbevölkerung Tibets begegnen. Niemand konnte die bestehenden Vorurteile überzeugender ausräumen als Sie mit Ihrem persönlichen Beispiel, Ihrer fachlichen Kompetenz und Ihrer emotionalen Präsenz. Sie, liebe Frau Tenberken, sind wirklich eine „Glücksblume“ für die Menschen in Lhasa und Umgebung – aber auch für uns und vor allem auch für mich persönlich.
Sich auf gleicher Augenhöhe zu begegnen als Blinde mit anderen blinden Menschen ist ein Vorgang, der Sie, Frau Tenberken, gewiss bereichert und uns alle anderen auch, indem Sie uns mit Ihren Schilderungen und Filmen daran teilhaben lassen. Der Begriff der Begegnung auf gleicher Augenhöhe ist übrigens der Begründung unserer Namensänderung von Sorgenkind in Aktion Mensch entlehnt, die wir mit dem weiteren Satz ergänzten: „Wer zuerst die Behinderung sieht, sieht nicht die Menschen“.
Das heißt, von Ihnen, Kelsang Meto, geht der Geist der Humanität aus. Sie haben Verantwortung übernommen und menschliche Nähe zugelassen.
Wie sagte noch Carl Friedrich von Weizsäcker? „Friedfertig ist, wer Frieden um sich entstehen lassen kann. Das ist eine Kraft, eine der größten Kräfte des Menschen.“ Möge Ihnen diese Kraft lange gegeben sein, liebe Frau Tenberken. Dieter Gutschick