Die „Tafel“ und ein Kinderwunsch im Radio – Hilde Rektorschek über Armut in Deutschland

Hilde Rektorscheck

Hilde Rektorschek hat am Freitag (10. Mai) das Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte erhalten. (Foto: Jürgen Neitzel)

Es schien ein ganz normaler Bürodienst in der Tafel zu werden. Wie üblich stand das Telefon nicht still.

Kolleginnen und Kollegen riefen an, um ihren Dienstplan zu regeln. Lieferanten teilten mit, wo und wann Lebensmittel, die nicht mehr in den Verkauf gelangen, abgeholt werden können.

Tafel-Kunden hatten Fragen und Wünsche. Potentielle Spender wollten Grundsätzliches über den Tafelbetrieb erfahren. Und dazu immer wieder Anfragen nach Schulpraktika!

Als langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin der Tafel war mir die Vielfalt der Themen vertraut. Als außergewöhnlich an diesem Tag empfand ich allerdings den Anruf eines hessischen Radiosenders. Die Journalistin fragte an, ob die Tafel ein Interview vermitteln könne mit einer Familie und deren Kindern, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Beabsichtigt war, zum Tage des Kinderrechtes eine Geschichte aus Kindersicht zu senden. Man versicherte mir, dass eine seriöse und authentische Reportage entstehen würde.

Nach Rücksprache mit dem Vorstand der Tafel sollte ich mich um geeignete Gesprächspartner bemühen. Das war für mich nicht wirklich schwierig. Ich kannte alle unsere Kunden persönlich.

Die meisten von ihnen hatte ich – nach Überprüfung ihres Einkommens, das nicht höher als 345 Euro sein darf – selbst als Tafel-Kunden aufgenommen. Wie schlimm es ist, die Hemmschwelle zu überwinden und den ersten Schritt für die Anmeldung zu tun, erfahre ich nur zu oft aus ihren Erzählungen, und auch mit welch großen Sorgen und Nöten sie leben müssen.

Nach einigen Überlegungen entschloss ich mich, eine Frau – ich will sie hier Beate nennen – und ihre zwei Töchter, 6 und 8 Jahre alt, für das Interview zu gewinnen. Auch Beate hatte ich als Tafel-Kundin aufgenommen. Sie verfügt über eine gute Ausbildung und konnte sich immer selbst versorgen.

Ihr Abstieg begann, als der Ehemann sie nach der Geburt ihres dritten Kindes – eines an schwerer Muskelkrankheit leidenden Jungen – einfach verließ. Er setzte sich ins Ausland ab und zahlt keinen Unterhalt für die Familie.

An ihrem Abholtag – immer dienstags – trug ich ihr mein Ansinnen vor. Sie reagierte sehr erfreut. Gerne wolle sie mit den Kindern zur Verfügung stehen, da sie sich schon immer mal was von der Seele reden wollte.

Sie bat mich, bei den Gesprächen anwesend zu sein. Wir vereinbarten einen Termin in den Räumen der Tafel.

Beate und ihre zwei Mädchen trafen pünktlich ein. Auf Wunsch der Journalistin sollten sie ihre derzeitige Lebenssituation schildern.

So erzählte Beate, dass die Familie keinen Festnetz-Anschluss besitze, weil dieser teurer sei als ein Handy. Sie habe ein Karten-Handy, leider mit einer meist leeren Karte. Für die Schule oder die Arztpraxis sei sie aber auf diesem Handy erreichbar.

Die Busfahrten zur Behandlung und zu den Arztbesuchen des kranken zweijährigen Sohnes würden ihre Haushaltskasse plündern, sodass der Einkauf in der Tafel einmal pro Woche für den symbolischen Betrag von einem Euro eine große finanzielle Hilfe darstelle. Die beiden Mädchen sagten daraufhin, dass sie Cent-Münzen in einem Glas sparen und manchmal, wenn Mama nicht mal den einen Euro für die Tafel hätte, sie ihr aus dem Glas die Münzen leihen würden.

Die Kinder berichteten, dass sie niemals bei den Mädchen und Jungen aus ihrer Klasse zu Geburtstagen eingeladen würden. Das fänden sie aber nicht so schlimm, denn dann bräuchten sie auch keine Geschenke zu kaufen und auch zu ihren eigenen Geburtstagen niemanden einladen.

Sie waren überzeugt, sowieso nicht so richtig dazuzugehören, weil sie auch nicht so tolle Kleidung hätten und auch keinen Roller oder Inliner. Mit ihren Schulheften würden sie sehr sorgsam umgehen, damit sie lange halten.

Die Journalistin bekam viele traurige Antworten zu hören, von denen ich hier nur einige wenige zitiert habe. Da Weihnachten vor der Türe stand, fragte sie die Mädchen: „Was wünscht ihr euch denn zu Weihnachten?“

Ohne zu überlegen, sagten beide gleichzeitig: „Wir wünschen uns einen Besuch im Schwimmbad – geht aber leider nicht, wir haben keine Badeanzüge…“

Ich bat die Journalistin, in der Sendung feinfühlig und verantwortungsvoll über die Probleme der Familie zu berichten. Am 20. November – am Tag des Kinderrechtes – hatte ich leider keine Möglichkeit, den Beitrag zu hören, erhielt aber die Nachricht, dass nach der Ausstrahlung unzählige Anrufe beim Sender eingegangen seien, in demen Hörerinnen und Hörer ihre Hilfe anboten. Eine ähnliche Resonanz hatte dieser Radiosender noch nicht erlebt.

Ab diesem Moment war ich voll mit der Spendenaktion beschäftigt. Ein Bankkonto wurde eingerichtet; mein Handy stand für eventuelle Rückfragen bereit.

So viel Anteilnahme und Hilfsbereitschaft hatte ich nie und nimmer erwartet. Die Menschen fragten nach Geschenkideen, nach Kleidergrößen, Schuhnummern. Viele waren sehr gerührt, dass die Mädchen einen so bescheidenen Weihnachtswunsch geäußert hatten, nämlich nur einen Besuch im Schwimmbad; und sie könnten es kaum fassen, dass sich die Familie in so großer Notlage befindet.

Für Beate und ihre drei Kinder kam eine beträchtliche Spendensumme zusammen. Dazu Bekleidung, Bücher, Spiele, Inliner, Schulmaterial, Gutscheine für zwei Schwimmkurse und viele kleine, liebevoll verpackte Weihnachtsgeschenke.

Für alle Spender bastelte Beate mit ihren Kindern Dankeschön-Karten mit Weihnachtswünschen. Ich habe sie frankiert und verschickt.

Nach zwei Monaten erzählte mir Beate begeistert, welch eine positive Veränderung vor sich gegangen sei. Im Ort würde die Familie von den Menschen nunmehr angenommen.

Sie stellten weiterhin ab und zu Päckchen vor ihre Türe; und Beate trifft sich mittlerweile mit Eltern von Mitschülern ihrer Töchter zum Kaffee. Auch die Mädchen seien sehr glücklich darüber, dass sie in der Schule nun miteinbezogen würden.

Beate sagte: „Es war schön, Geld zu bekommen und Geschenke und so viel Hilfe und Anteilnahme. Ein Geschenk des Himmels aber ist, dass wir nun auch zur Gemeinschaft dazugehören und nicht mehr außen vor sind.“

Und am Ende unseres Gespräches sagte sie leise zu mir: „Ein wenig traurig bin ich aber darüber, dass das Glück nur mich getroffen hat und nicht die vielen anderen Familien, die in ähnlicher Notlage sind.“

Mit diesen Worten von Beate möchte ich meine Geschichte von der Tafel und einem Kinderwunsch im Radio beenden.

Hilde Rektorschek

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