Zwei Frauen, eine Auszeichnung: Ruby Hartbrich setzt sich für die Rettung Schiffbrüchiger ein und Kristina Hänel für die Würde von Frauen. Dafür haben die beiden Ärztinnen am Dienstag das „Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte“ 2019 erhalten.
Mit dem Preis würdigen die Universitätsstadt und die Humanistische Union (HU) Marburg das Engagement für sozial benachteiligte Menschen und den respektvollen Umgang mit ihnen. „Sie beide folgen in Ihrem exemplarischen Handeln moralischen und ethischen Grundsätzen, die uns erinnern, dass unsere Gesellschaft, soweit wir auch gekommen sind, noch einen langen Weg zu einem gerechten Deutschland und Europa zu gehen hat“, begrüßte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die beiden Preisträgerinnen Ruby Hartbrich und Kristina Hänel bei der Festveranstaltung im voll besetzten Historischen Rathaussaal. „Mit Ihrer klaren Haltung auch bei heftigem Gegenwind, bei Hass und Drohung, bei Gefahr für Ihre persönliche Freiheit, treten Sie für Ihre, für unsere Überzeugungen ein“, so Spies. „Dafür danken wir Ihnen heute. Verehrte Kristina Hänel, verehrte Ruby Hartbrich: Danke, dass Sie tun, was Sie tun“, sagte der Oberbürgermeister unter lautem Beifall zu den beiden Preisträgerinnen.
Gemeinsam mit seinem Vorgänger, dem Marburger Ehrenbürger und Jury-Sprecher Egon Vaupel überreichte Spies das „Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte“ der Humanistischen Union (HU) und des Magistrats der Stadt Marburg an Hartbrich und Hänel. „Wir zeichnen Personen aus, ‚die sich in vorbildlicher Weise für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben ohne Ansehen ihrer sozialen, gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Stellung eingesetzt haben‘“, erklärte der OB. Das sei der Kern der undotierten Auszeichnung – nicht große Organisationen zu würdigen, „sondern bewusst einzelne Menschen, die sich für ein gutes Zusammenleben, für Teilhabe, einsetzen“.
Der Bundesvorsitzende der HU, Werner Koep-Kerstin, hob die Bedeutung des „Marburger Leuchtfeuers“ hervor, dessen „Ausstrahlungskraft“ bis nach Berlin und in andere Regionen der Republik wirke. „Freiheit und Selbstbestimmung sind für die HU die entscheidenden Koordinaten“, sagte Koep-Kerstin. Diese müssten in Anspruch genommen werden können. Es helfe kein Grund- oder Menschenrecht, wenn ein gesellschaftliches Klima herrsche, „das Respekt für gesellschaftlich benachteiligte Menschen und Menschen in Not vermissen lässt“.
Seit 2015 ist die Marburger Ärztin Ruby Hartbrich ehrenamtlich für die Seenotrettung von Flüchtlingen im Einsatz. Sechsmal half sie bisher, auf Rettungsschiffen der gemeinnützigen Initiative „Sea-Watch“ Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu bewahren. Sie leistet Schiffbrüchigen ehrenamtlich medizinische Hilfe. Das ist eine Aufgabe, „die eigentlich von den Anrainerstaaten des Mittelmeers zu erfüllen wäre“, stellte Egon Vaupel klar: „Sie wendet sich öffentlich gegen die Haltung der Bundesregierung, die billigend in Kauf nimmt, dass schwangere Frauen – ja, ganze Familien – ertrinken, nur damit Zuwanderung nach Europa verhindert wird.“
Sie stehe stellvertretend für die „Sea Watch“ und „für all diejenigen Menschen, die sich seit Jahren unabdinglich für Menschen auf der Flucht einsetzen und all ihre Energie darin stecken, dass Flüchtenden die gleichen Menschenrechte zukommen wie uns Europäer*innen“, sagte Ruby Hartbrich in ihrer Dankesrede. Sie freue sich sehr über die Auszeichnung der Humanistischen Union Marburg für eine Arbeit, „die vielerorts kritisiert und sogar kriminalisiert wird: Die Rettung von Menschen auf der Flucht im Mittelmeer“. Damit setze die HU „ein klares Zeichen gegen Rassismus und Abschottung und für Solidarität“.
Die Laudatorin Prof. Dr. Marita Metz-Becker, Professorin am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität, betonte: „Jeder Rettungseinsatz ist ein Zeichen gegen das Sterbenlassen an den Europäischen Außengrenzen und ein klarer Akt der Menschlichkeit.“ Die zum größten Teil ehrenamtlichen Seenotretter*rinnen müssten sich immer wieder Gerichtsverfahren oder juristischen Vorwürfen aussetzen. Darüber sprach auch Franz-Josef Hanke, Vorsitzender der HU Marburg mit Verweis auf Carola Rackete, Kapitänin der „Sea Watch 3“, auf der auch Hartbrich tätig war. „Seenotrettung ist Aufgabe staatlicher Stellen und nicht in erster Linie von privaten Hilfsorganisationen, die dafür dann sogar noch kriminalisiert werden.“ Hanke forderte: „Das andauernde Sterben im Mittelmeer ist ein unerträglicher Bruch aller christlichen und humanistischen Werte und muss sofort aufhören!“
Der Vorsitzende der Marburger HU dankte dem Oberbürgermeister, dem Magistrat und den Stadtverordneten „für ihre klare Haltung zur Seenotrettung“ und dafür, dass sich die Stadt Marburg als ein „Sicherer Hafen“ neben weiteren deutschen Städten bereit erklärt hat, über das zugewiesene Kontingent hinaus geflüchtete Menschen in Not aufzunehmen. „Diese deutliche Haltung des allergrößten Teils der Stadtgesellschaft macht mich froh, in dieser altehrwürdigen und doch zugleich jungen Stadt mit so vielen freundlichen Menschen zusammenleben zu dürfen.“
Landrätin Kirsten Fründt würdigte Ruby Hartbrich und Kristina Hänel als „zwei den Genen dieser Stadt angemessene Preisträgerinnen des Marburger Leuchtfeuers, die tun, was notwendig und richtig ist.“
Denn auch die zweite Preisträgerin Kristina Hänel setzt sich für Menschen in Not ein – und für das Recht von Frauen auf Selbstbestimmung über ihren Körper. Die Gießener Fachärztin für Allgemeinmedizin wurde 2017 zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite über Schwangerschaftsabbrüche informiert und damit gegen Paragraf 219a des Strafgesetzbuches verstößt. Hänel legte damals Revision ein, der Fall löste eine breite öffentliche Debatte aus – sie selbst sagt, sie sei „nicht ganz freiwillig zur Galionsfigur geworden im derzeit wieder aktuellen Kampf gegen ein uraltes Strafrecht, das Frauen in ihrer Existenz trifft wie kein anderes – und mit ihnen helfende Ärzte“.
„Der Paragraph 219a schützt niemanden. Er schützt keine Frauen, er schützt auch kein ungeborenes Leben. Er verhindert oder erschwert zumindest, dass Frauen in der vielleicht schwierigsten Situation ihres Lebens Informationen finden“, hatte schon OB Spies zu Anfang der Preisverleihung klargestellt. Der Paragraf schütze keine Menschenleben. Er mache eine ohnehin schon unerträglich schwierige Situation noch schwieriger: „Deshalb muss der ganze Paragraph 219a weg.“
Vor einer Woche hob das Oberlandesgericht das Urteil gegen Hänel auf. Der Fall muss vor dem Landgericht in Gießen neu verhandelt werden, und die Gießener Ärztin kämpft weiter für die ungehinderte Informationsfreiheit – laut Hänel ein Menschenrecht. Hanke hatte bereits in seiner Begrüßungsrede klargestellt: „Niemand hier im Saal – auch nicht Kristina Hänel – möchte ‚Werbung für Schwangerschaftsabbrüche‘ machen. Vielmehr geht es darum, Frauen in Krisensituationen beizustehen und ihnen Mut zu machen.“
Die Laudatorin und Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth sprach – per Videobotschaft, da sie verhindert war. Süssmuth dankte Hänel dafür, dass sie sowohl für geborenes wie ungeborenes Leben, das es zu schützen gelte, immer wieder eintrete, und auch die letzte Entscheidung der Frau respektiere. Sie habe Hänel in Gießen während einer Veranstaltung zum Frauenwahlrecht gesehen und bezeichnete das als „unvergesslichen Augenblick“, denn: „Weil diese Frau bei allem, was sie durchgemacht hat, was ihr vorgeworfen wurde, keineswegs müde erschien oder nicht mehr einsatz- und kampfbereit – das hat mir gesagt: ‚Warte nicht ab! Setze dich rechtzeitig ein, wenn es darum geht, menschliches Leben in eine würdigere Form zu bringen.‘“
Die Gesetzesnovelle bezeichnete Süssmuth als „Rückfall“. Frauen würden erneut „wie nicht entscheidungsfähige, nicht zu verantwortungsvollem Handeln fähige Menschen“ behandelt. Die ausgezeichnete Ärztin Kristina Hänel selbst sagte in Marburg: „Wenn eine Gesellschaft an einen Punkt gekommen ist, dass sie mich für mein Engagement für freien Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen ehrt, dann gibt sie damit auch den Millionen Betroffenen einen Teil Ehre zurück, die allzu oft ihrer Würde, ihrer Menschenrechte und teilweise auch ihres Lebens beraubt wurden.“
Erstmals hat die Jury auf Anregung Egon Vaupels zwei Personen in einem Jahr gewürdigt – „in Anerkennung ihres vorbildlichen Eintretens für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben aller Menschen ohne Ansehen des Geschlechts, der Herkunft oder Hautfarbe und ihrer sozialen Situation“, wie der Jury-Vorsitzende sagte. Die doppelte Preisverleihung des Marburger Leuchtfeuers verdeutliche auch „die Doppelmoral im Umgang mit Leben“: „In unserer Gesellschaft werden gegenläufige Maßstäbe an menschliche Schicksale angelegt. Leid und Tod der einen scheinen vertretbar, während im anderen Fall der erwachsenen, mündigen Frau zum vermeintlichen ‚Schutz des Lebens‘ das Recht aberkannt wird, frei und uneingeschränkt Informationen darüber zu erlangen, was sie am Ende selbstbestimmt entscheiden muss.“
Dieser vorherrschende gesellschaftliche Widerspruch verbinde die Arbeit und Bemühungen beider Ärztinnen. „Letztlich stehen beide Frauen für dasselbe Ziel: In vorbildlicher Weise setzen sie sich für ein selbstbestimmtes Leben in Würde ein. Der Schutz der Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes könnte kaum klarer durch praktisches Handeln verdeutlicht werden als mit dem Engagement dieser beiden Ärztinnen“, sagte Vaupel.
Auch ihr Einsatz für den Schutz von Menschen in Notlagen sei zu würdigen – ebenso wie ihr „Mut, für ihre Überzeugung trotz erbitterter Widerstände konsequent einzustehen und sich tatkräftig für eine bessere Zukunft einzusetzen“. Denn: „Sowohl Ruby Hartbrich als auch Kristina Hänel wie auch viele unserer früheren Preisträgerinnen und Preisträger sind für ihre Haltung beschimpft und bedroht worden. Wir treten dafür ein, dass auch Menschen gewürdigt werden, deren Haltung nicht bei allen auf Zustimmung stößt“, machte Hanke deutlich, „umso wichtiger ist für uns, ihr mutiges Eintreten für ihre Überzeugung zu würdigen und ihnen damit den Rücken zu stärken.“
pm der Universitätsstadt Marburg