Was war das Erste, was mir an Friedhelm Hengsbach auffiel? Sein freundlich bestechender, offener Blick, der einen, bei aller Bescheidenheit seines Auftretens, sofort anzieht und einnimmt. Ein faszinierendes Gemisch von Wärme, Neugier, Humor, Klarheit und Entschlossenheit leuchtet einem aus seinen Augen entgegen, das in Bann zieht und seinen Worten unweigerlich Aufmerksamkeit verschafft wie Nachdruck verleiht.
Mehr als zehn Jahre ist es jetzt her, dass wir uns das erste Mal begegneten, er der Jesuit, der Professor für Christliche Sozialwissenschaft, Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, der Leiter des Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt, und ich, die Arbeits- und Sozialrechtlerin, die Politikerin, seinerzeit Ministerin für Wissenschaft und Kunst in Hessen. Friedhelm Hengsbach brachte damals zu diesem Treffen neben diesem Blick eine lederne Aktentasche mit Riemen voll Unterlagen und ein Anliegen mit – eine untrennbare Dreieinigkeit, man kann sagen Markenzeichen von Friedhelm Hengsbach, wie ich nach vielen weiteren Begegnungen mit ihm inzwischen weiß. Es ging damals um die finanziellen Standbeine seines Instituts, um die Finanzierung von Projekten, die Friedhelm Hengsbach mit seinen Mitarbeitern voranbringen wollte, und ich merkte sogleich, da saß mir niemand gegenüber, dem die eigene Profilierung, die gute Ausstattung seines Lehrstuhls wichtig war, da sprach keiner allein aus Sorge um den Bestand eines Instituts, benannt nach und zu Ehren des 1991 verstorbenen herausragenden Sozialethikers Oswald von Nell-Breuning, der seit 1928 in St. Georgen gelehrt hatte und bedeutender Mentor der katholischen Soziallehre sowie über Jahrzehnte gewichtiger Berater, Kritiker und Mitgestalter der Sozialpolitik in Deutschland gewesen ist. Nein, da engagierte sich einer in völliger Uneitelkeit, aber mit großem Nachdruck und Enthusiasmus für das Weitertragen und -entwickeln eines religiös motivierten, wissenschaftlich begründeten ethischen Denk- und Forschungsansatzes, der nicht im Abstrakten verhaftet bleibt, sondern sich den sozialen Wirklichkeiten widmet und dabei den Menschen in den Mittelpunkt allen ökonomischen und politischen Bestrebens zu setzen versucht, ganz im Sinne von Oswald von Nell-Breuning.
“ Zweck und Ziel der Volkswirtschaft ist nur die allgemeine Volkswohlfahrt. Ein Erwerbsstreben, das über die Grenzen des Wertes der eigenen persönlichen und sachlichen Leistung hinaus Mehrwert sucht auf Kosten fremder Arbeit, fremden Eigentums und fremder Wohlfahrt zum Schaden der Gesamtheit, ist unsittlich und zu verwerfen.“ Diese Entschließung des Verbandes katholischer kaufmännischer Vereinigungen aus dem Jahre 1919 hatte Oswald von Nell-Breuning 1928 seiner Dissertation über die Grundzüge der Börsenmoral als Leitmotiv vorangestellt, und in diesem Geiste hat Friedhelm Hengsbach dessen Werk in heutiger Zeit fortgesetzt und weiterentwickelt.
Prädestiniert dazu ist er wie kein anderer, kann er doch einerseits aufgrund seiner Studien der Philosophie, der Theologie und der Wirtschaftswissenschaften aus einem vielseitigen, reichhaltigen und tiefgründigen Fundus an Wissen schöpfen, den er meisterlich zu nutzen vermag und immer wieder mit neuen Erkenntnissen und Einsichten anreichert. Wer Friedhelm Hengsbach auf Tagungen beobachtet, erlebt einen Menschen, der sich zunächst einmal zurückhält, der zuhören kann, der bei Wortmeldungen kein professorales Gehabe an den Tag legt, nicht belehrend wirkt, sondern mitdenkend zunächst einmal Fragen stellt, Thesen abklopft und hinterfragt, nicht angreifend, sondern suchend. Wenn er aber dann Position bezieht, kommt das zum Tragen und paart sich mit seinem Kenntnisreichtum, was ihn ganz besonders auszeichnet: sein Impetus, aufzuklären über das, was hinter den Dingen steht, die unser Leben bestimmen, sein Wunsch, zurechtzurücken, was in moralische und gesellschaftliche Schieflage geraten ist, sein Wille, nicht einfach allem Treiben in Gesellschaft und Politik zuzusehen, sondern sich einzumischen dort, wo es Veränderungsbedarf gibt, kurzum, sein unbändiges Engagement, mit dem er immerzu und mit Beharrlichkeit ins Zentrum aller Betrachtungen und allen Bestrebens den Menschen zu stellen versucht, nicht scheuend, deshalb des Öfteren selbst als unverbesserlicher „Gutmensch“ belächelt zu werden, was er mit Gelassenheit hinnimmt.
Vor allem die Mühseligen und Beladenen sind es, diejenigen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, mit deren Los er sich beschäftigt und nicht abfinden will. Dabei geht es ihm nicht vorrangig um das Einfordern von milder Nächstenliebe, predigt er nicht nur Moral, sondern sein Blick gilt den Strukturen, die dazu führen, dass Menschen ins Abseits geraten und ihrer Würde beraubt werden. Und auf der Basis gesellschaftlicher wie ökonomischer Analysen hält er der Gesellschaft wie Politik den Spiegel vors Gesicht und mahnt mit Unermüdlichkeit konkrete Reformen zum Besseren an. Schon in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Die Arbeit hat Vorrang – eine Option katholischer Soziallehre“ setzte er dafür markante Zeichen. Und seither widmet er sein Schreiben und Reden, so facettenreich es ist, im Kern doch immer wieder vornehmlich der Frage nach den Maximen, die unsere Gesellschaft leiten, nach dem Menschenbild, das das politische und ökonomische Handeln bestimmt, und nach der (Un-)Gerechtigkeit, die in unserem Land und in der Welt herrscht. Beeindruckend ist dabei nicht nur die Länge seiner Veröffentlichungsliste, nicht nur seine geistreiche und pointierte Formulierungskunst, nicht nur seine scharfsichtige Aufdeckung ideologischer Täuschungen und Irrwege, sondern auch sein nachhaltiges und stets aktuell auf die politischen und gesellschaftlichen Debatten eingehendes „Am-Ball-bleiben“ bei diesen Themen mit eigenen Wegweisungen, die er aufzeigt. Dafür bedient er sich – ganz Populist um der Menschen willen – durchaus nicht nur der Veröffentlichung von fachwissenschaftlichen Büchern und Aufsätzen, sondern beherrscht auch virtuos die Klaviatur des Kolumne-Schreibens und bedient sich ihrer, um ausreichend Gehör für seine Anliegen zu finden.
Die glückliche Verquickung von Analyst und Prediger, die Friedhelm Hengsbach ausmacht, zeigt sich beeindruckend in der Art und Weise, wie er sich Themen und Problemlagen nähert.
Sein erster Blick gilt zunächst einmal stets den gesellschaftlichen Zuständen und Fakten. Die dort stattfindenden Entwicklungen insbesondere auf den Arbeits- und Finanzmärkten mit ihren Auswirkungen auf das Verhältnis von Arm und Reich, auf die Verteilung von Geld und Arbeit zeichnet er nach, macht sie zum Fokus seiner Betrachtungen und geht in aufklärerischer Manier der Frage nach den Ursachen und Gründen für hier erkennbare Schieflagen nach. Es ist schon bemerkenswert, wenn ausgerechnet ein Mann der Kirche den Machern im Weltlichen dabei immer wieder verdeutlicht, dass die herrschende Ungleichheit und zunehmende Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft nicht vom Himmel gefallen, auch keine Naturereignisse sind, denen die politische Klasse ohnmächtig ausgeliefert wäre, dass sie nicht der Globalisierung, dem Schrumpfen der Geburtenraten oder einer veränderten Altersstruktur geschuldet sind, sondern auf ideologischem Gedankenboden wachsen, der sich in den Köpfen breit gemacht hat, und ein Produkt von Menschenhand wie profanen politischen Entscheidungen sind, die durchaus korrigiert werden können.
So konfrontiert er die Reden von der globalen Herausforderung, die zum „Gürtel-enger-schnallen“ nötige, mit unseren fortwährenden Handels- und Leistungsbilanzüberschüssen, er weist darauf hin, welche langfristigen monetären und wirtschaftlichen Risiken mit dem die Märkte beherrschenden Shareholder-value-Denken verbunden sind, das das Heil in Gewinnsteigerungen via Massenentlassungen sucht, setzt dem die Idee eines „demokratiefähigen“ Kapitalismus entgegen, dessen Machbarkeit er an konkreten Beispielen demonstriert, und entlarvt damit die angebliche ökonomische Zwangsläufigkeit als diffuse Form wie vordergründige Methode, Massenarbeitslosigkeit zu erklären und den Abbau sozialer Sicherheit zu Lasten der Schwächeren zu legitimieren. Gleiches gilt für die demografische Herausforderung. Auch hier begegnet er der vermeintlichen Unausweichlichkeit, wegen dieser Entwicklung soziale Einschnitte vornehmen zu müssen, mit dem aus ökonomischem Sachverstand entspringenden Hinweis, dass die Leistungsfähigkeit eines Landes nicht vorrangig bestimmt wird durch die biologische Anzahl und Zusammensetzung seiner Bevölkerung, vielmehr von den wirtschaftlichen Wachstumschancen, dem Beschäftigungsgrad und der Produktivitätsrate, die im Lande erreicht wird. Und um dies einsichtig und für alle verständlich zu machen, hat er auch gleich ein plastisches Beispiel parat. Er führt uns vor Augen, dass vor 150 Jahren 8 Bauern einen Nichtbauern zu ernähren hatten, während heute ein Bauer 88 Nichtbauern satt machen kann.
Ist damit von ihm das Spielfeld politischer Handlungsräume sichtbar gemacht und von unreflektierten Gemeinplätzen wie ideologischem Ballast freigeräumt, widmet sich Friedhelm Hengsbach mit moraltheologischem Impetus, doch auch hier in analytischer Vorgehensweise der für ihn im Zentrum stehenden Frage nach dem Menschenbild, das dem jeweiligen politischen Handeln zugrunde liegt. Kennen Sie den Agenda-Menschen? Er ist nur im Namen eine inzwischen häufig zitierte Erfindung von Friedhelm Hengsbach, so auch in Heribert Prantls Buch „Kein schöner Land“ über den Sozialstaat und die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit. Entdeckt hat ihn Friedhelm Hengsbach durch sorgfältiges Studieren und Auswerten der in den letzten Jahren geplanten und zum Teil schon vollzogenen politischen Agenda-Reformen und ihren Konsequenzen für die Menschen. Welchem Anforderungsprofil hat eigentlich ein Mensch unter dem Vorzeichen solcher Vorhaben und der durch sie bestimmten Lebensbedingungen zu entsprechen? Dies ist die Frage, der Friedhelm Hengsbach auf den Grund gegangen ist. Gefunden hat er dabei den autonomen, leistungsfähigen wie leistungsbereiten Menschen, dem Erwerbstätigkeit als ausschließlicher Schlüssel persönlicher Identität, materiellen Wohlstandes und gesellschaftlicher Anerkennung gilt, dem Überstunden und Mehrarbeit auch unbezahlt nichts ausmachen, der sich als hochgradig flexibel und mobil erweist und persönliche Bindungen meidet oder löst, um den an ihn gerichteten Ansprüchen gerecht zu werden, und der schließlich bereit ist, Risiken auf sich zu nehmen und sie bei Eintritt unter Verzicht auf solidarische Hilfe individuell zu meistern. Eine auf den ersten Blick durchaus respektable Erscheinung, doch was für Verluste für das Individuum und die Gesellschaft sind mit solcher Profilierung verbunden und was passiert, wenn die Verhältnisse nicht so sind, wenn schlicht keine Arbeitsplätze vorhanden sind, um derartige Talente zur Entfaltung zu bringen, wenn die Lebensumstände es nicht ermöglichen, sich als in allem fungible Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, oder wenn die eigenen Fähigkeiten hierzu nicht reichen?
Offenkundig ist, dass familiärer Zusammenhalt bei solch einseitiger Ausrichtung auf das eigene Ego und die Anpassung an die Erfordernisse der Märkte unter die Räder gerät, dass Kinder nur Bremsklötze am Bein beim run um die lukrativsten Positionen sind, dass für nachbarschaftliche Unterstützung und Freundschaftsdienste kaum Zeit oder Raum bleibt. Das Mitmenschliche weicht so immer mehr dem Ellenbogen, der zum eigenen Vorteil eingesetzt wird. Doch erhält man damit selbst einmal von einem anderen einen Schlag ausgeteilt, spendet einem die Eigenliebe wenig Trost. Und wenn alles sich Strecken und Gefügigmachen, aller Verzicht unter Selbstausbeutung nicht verhindern kann, dennoch zu denen zu gehören, die ihre Arbeit verlieren, weil sie im Konkurrenzkampf um die knapper werdenden Arbeitsplätze den Kürzeren ziehen oder weil ihr Arbeitsplatz dem immer gefräßigeren Trachten nach Gewinnmaximierung zum Opfer fällt, dann erhält der Hinweis auf die zu übende Selbsthilfe einen bitteren Beigeschmack, führt schnell an den Rand des Existenzminimums und lässt die Solidarität der anderen vermissen, die einen beim Fallen ins Unglück auffängt. Wer schließlich aber schon nicht über die Kräfte und Möglichkeiten verfügt, um dem Bild des Agenda-Menschen zu genügen, wer es nicht schafft, sich zu den Töpfen durchzuschlagen, aus denen Arbeit und ausreichendes Einkommen verteilt wird, der findet unter solchen Vorzeichen immer weniger Bereitschaft, unterstützt zu werden, und wird nicht nur zum Verlierer erklärt, sondern immer mehr als Schmarotzer empfunden.
Damit aber, so Friedhelm Hengsbach, erfolgt eine Sicht auf Menschen, die den Ein-zelnen gesellschaftlich entkoppelt, die die Gesellschaft spaltet, die ungeachtet der realen Arbeitsbedingungen und -chancen Menschen aufteilt in solche, die den Unternehmen nützlich sind und dem Staate nicht zur Last fallen und solchen, die ihm auf der Tasche liegen, als unbrauchbar gelten, denen unterstellt wird, sie strengten sich unzureichend an und seien damit selbst an ihrer Situation schuld. Nun ist zwar nicht zu leugnen, dass es durchaus auch Trittbrettfahrer unter den Sozialleistungs-Empfängern gibt, die das Durchfüttern seitens der Gemeinschaft der Arbeit vorziehen. Dass diesen, werden sie dabei ertappt, der Gemeinschaftskorb höher zu hängen ist, ist keine Frage. Doch darum geht es nicht. Vielmehr werden am abstrakten Maßstab des Agenda-Menschen all diejenigen, die ihre Arbeit verlieren oder keine finden, immer häufiger pauschal als Versager abgestempelt und unter Verdacht gestellt, sich nicht ausreichend um Arbeit zu bemühen und damit staatliche Leistungen missbräuchlich in Anspruch zu nehmen. Dies dient dann der Rechtfertigung, sie immer massiveren Kontrollen zu unterziehen, gar über die Wiedereinführung des Arbeitsdienstes für Arbeitslose laut nachzudenken, wie es jüngst ein CSU-Abgeordneter getan hat, und ihnen allen die Leistungen immer weiter zu kürzen, quasi als Strafe für ihre Angewiesenheit auf finanzielle Hilfe, die schmerzen soll, um ihnen noch mehr Gefügigkeit abzutrotzen. Doch mangels Perspektive auf einen konkreten Arbeitsplatz und einen Lohn, der den Lebensunterhalt sicherstellt, erzeugt dies bei den Betroffenen nur Scham, Perspektivlosigkeit, Resignation oder Wut. Diejenigen aber, die Arbeit noch haben oder erhalten, werden dem Diktat des Geldes unterworfen und zur Dankbarkeit aufgefordert, in Leiharbeit, Schein-Selbständigkeit, in Ich-AGs, Mini- oder Ein-Euro-Jobs immer länger und für immer weniger Geld arbeiten zu dürfen, selbst wenn dies nicht mehr das eigene Existenzminimum deckt. So dreht sich mit der Einkommens-Spirale auch die der Sozialleistungen immer weiter abwärts bei gleichzeitigem Wachsen des Reichtums im Lande, wird der Wert des Menschen gemessen an seiner Gefügigkeit der Wirtschaft gegenüber.
Entspricht dies alles noch dem Bild von der Würde des Menschen, ob nun theologisch begründet, den Ideen der Aufklärung entnommen, oder Art. 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes geschuldet? Nein, lautet die Antwort von Friedhelm Hengsbach, denn die Würde der menschlichen Person ist und soll Ursprung, Mittelpunkt und Ziel jeder wirtschaftlichen Tätigkeit sein und nicht umgekehrt die Wirtschaft das Maß aller Dinge, die den Menschen ausmachen, wie es schon das Motto der Dissertation von Nell-Breuning hervorgehoben hat. Und er mahnt an, dass menschliche Würde nicht vom Himmel fällt und niemand sie sich selbst beschaffen kann, sondern in einer demokratischen Gesellschaft gewonnen wird, indem wir uns wechselseitig das Recht einräumen, als Gleiche behandelt und anerkannt zu werden, indem wir Solidarität miteinander und Respekt vor der Person des Anderen üben und indem wir denen, die abhängig und unterdrückt sind, Rechte zu ihrem Schutz einräumen. Das aber erfordert, Arbeitnehmer und Arbeitslose nicht in Konkurrenz zueinander zu bringen, sondern zu verhindern, dass ihnen seitens des Kapitals oder des Staates das Rückgrat gekrümmt wird und sie zum Mittel der Gewinnmaximierung degradiert oder als wertlos eingestuft werden. Dies ist sein eindringliches Petitum, dies ist wesentlicher Teil seiner Botschaft, die Friedhelm Hengsbach den politisch und wirtschaftlich Agierenden immer wieder ins Gebetbuch schreibt, wenn er den Sozialabbau kritisiert, der in unserem Lande eingeläutet wurde. Bei aller Auseinandersetzung mit den einzelnen Maßnahmen geht es ihm dabei nicht vorrangig um deren Details, es geht ihm um Grundsätzliches. Seine vornehmliche Sorge gilt dem Wandel der Einstellungen in den Köpfen der Menschen von sich selbst, dem Anderen und der Gemeinschaft, der solche „Reform-Maßnahmen“ anstößt wie beschleunigt. Er warnt vor einer Gesellschaft, in der Nächstenliebe – oder um es nicht christlich, sondern sekular zu formulieren – in der Solidarität Fremdworte werden und Menschlichkeit verloren geht, er warnt nicht in Schwarzmalerei, sondern durch Konfrontation mit dem Faktischen, nicht nur im Einklang mit der Bergpredigt, sondern auch unserem Grundgesetz.
Und schließlich wird Friedhelm Hengsbach nicht müde, die für ihn zentrale Frage nach dem Leitmotiv unserer Gesellschaft, nach der sozialen Gerechtigkeit in unserem Gemeinwesen zu stellen und Solidarität einzufordern. Auch hier wieder belässt er es nicht allein beim Erheben des moralischen Zeigefingers, führt uns nicht nur in den ideengeschichtlichen Hintergrund des Trachtens nach Gerechtigkeit ein, erinnert nicht nur an den realen historischen Hintergrund, der die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aufkommen ließ, an das Elend der Massen und das Auseinanderklaffen von arm und reich. Nein, sein Anliegen ist, mit guten Argumenten zu begründen, weshalb Gerechtigkeit auch in unserer heutigen Zeit Not tut, aber Not leidet. Allerdings, „normative Grundsätze können nicht gemolken werden, sondern sind nur als Spurensuche einer Antwort auf situative Herausforderungen hilfreich. Das gilt auch für den Grundsatz der Gerechtigkeit“, diese Worte kennzeichnen, dass Friedhelm Hengsbach gerade bei diesem Thema den kategorischen Imperativ eher meidet und seine Argumente lieber mitten aus dem Leben schöpft. Deshalb verweist er mit Zahlen und Fakten auf die wieder steiler werdenden Schieflagen zwischen den Bevölkerungsgruppen, auf die ungleichen Chancen und Risiken von Erwerbstätigen und Arbeitslosen, Männern und Frauen, Wohlhabenden und Armen, auf die wachsende Differenzierung, Polarisierung und Ausgrenzung in unserem Lande, und fordert angesichts dieser Situation auf, Farbe zu bekennen, was wir unter Gerechtigkeit verstehen wollen. Seine Antwort darauf lautet: „Wer diese Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung als Folge ungebremster Marktsteuerung nicht lediglich normativ bestätigen will, indem er das, was ist, für gerecht erklärt, der wird den Vorrang der normativen Option der Gleichheit, demokratischer Gleichheit, für plausibel halten“. Eine zunächst sehr vorsichtige, allein den eigenen Standpunkt ortende und bekennende Antwort, die er hier gibt, wohlwissend um die Relativität dessen, was als gerecht empfunden wird, und um die Argumente, die gegen seine Position zu Felde gefahren werden. Wer kennt nicht das Reden von den natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden, die es immer geben werde, und das vom untauglichen Versuch, mit Hilfe einer den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehenden aufwendigen Sozialbürokratie das unerreichbare Ziel der Gleichheit von Menschen und der Gerechtigkeit auf Erden anzustreben.
Deshalb verbindet und untermauert Friedhelm Hengsbach das Thema stets mit dem „Anderen der Gerechtigkeit“, der Solidarität. „Die Tugend der Gerechtigkeit ist der Respekt vor dem anderen als gleichberechtigte Mitglieder einer Gesellschaft, während die Tugend der Solidarität der Respekt vor dem anderen als unvertretbarer Einzelner ist“, so sagt er und so setzt er durch diese Verknüpfung die Wahrung der Menschenwürde in Beziehung zur Frage nach Gerechtigkeit und Gleichheit in einer Gemeinschaft und macht sie zum unbedingten Anlass und Motor sozialen Ausgleichs. In Anerkennung der Einzigartigkeit der Menschen wie ihrer Gleichheit als gesellschaftlicher Konstruktion erfüllt die Solidarität nach Auffassung Hengsbachs die Funktion, die Erwartungen, Bedürfnisse und Handlungen der verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft aufeinander abzustimmen, einen nicht samariterischen, sondern rechtsverbindlichen Interessenausgleich herzustellen und für einen Ausgleich ungleicher Lebensrisiken Sorge zu tragen, um den gesellschaftlichen und ökonomischen Asymmetrien zu begegnen und so jedem die Wahrnehmung bürgerlicher Freiheitsrechte sowie politische Teilhabe zu ermöglichen, die konstituierend für ein demokratisches Gemeinwesen sind. Gerechtigkeit durch Solidarität in Anerkennung jedes Einzelnen, seiner Rechte wie seines Schutzbedürfnisses in den Risiko-Fällen des Lebens – das muss die Maxime des individuellen wie staatlichen Handelns sein, so lautet deshalb seine zentrale Botschaft, die Friedhelm Hengsbach den politisch Handelnden nicht müde wird zu predigen und ihnen dabei immer wieder vor Augen hält, wo sie von diesem Wege abweichen.
Nicht nur bei diesem Petitum korrespondieren die Auffassungen des moraltheologischen Ökonomen mit denen der Juristin und Verfassungsrichterin. Denn unser Grundgesetz basiert auf zwei Erkenntnissen. Dass die Würde eines Menschen durchaus verletzbar ist, wenn er durch Gewalt oder Elend erniedrigt wird, weshalb sie in unserer Verfassung kategorisch für unantastbar erklärt worden ist und alle Staatsgewalten in der Pflicht stehen, sie zu achten und zu schützen. Und dass in einer Demokratie, die auf der Gleichheit und Gleichberechtigung ihrer Bürger basiert, der Staat nicht nur Rechtsstaat, sondern auch Sozialstaat sein muss, um die Rechte, die er einräumt, auch allen zuteil kommen zu lassen. Der Rechtsstaat regiert mit Gesetzen, die ihn bändigen und damit Freiheiten eröffnen. Der Sozialstaat regiert mit Interventionen, um jedem Einzelnen als Teil des demokratischen Volkssouverains seine Würde zu sichern, ihm Platz in der Gemeinschaft zu geben, ihm zu ermöglichen, garantierte Freiheiten auch wahrnehmen zu können und ihm helfend zur Seite zu stehen, wenn er nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen. Deshalb ist der Sozialstaat auch nicht nur die Festschreibung einer staatlichen Verpflichtung, mildtätige Gaben an die Bedürftigen zu verteilen, sondern verfassungsverbindliche Aufforderung an den Staat, allen Menschen, die zu ihm gehören, einen aufrechten Gang zu ermöglichen und ihnen dafür Rechte auf Teilhabe und zu ihrem Schutze zu geben. Um dies aber verwirklichen zu können, muss er das Verantwortungsbewusstsein füreinander in der Gesellschaft wach halten wie unterstützen, und von jedem einen der jeweiligen Leistungsfähigkeit angemessenen Beitrag zum Wohle aller einfordern. Gerechten Ausgleich und Solidarität als Maßstab staatlichen Handelns anzumahnen ist also nicht nur Christenpflicht und Gebot der Nächstenliebe, sondern auch unserer Verfassung geschuldet, die dies unserem Staat als Marschroute vorgegeben hat. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies bei so manchen in Vergessenheit geraten ist.
Leuchtfeuer nennt sich der Preis, mit dem die Humanistische Union gemeinsam mit der Stadt Marburg Menschen würdigt, die sich mit herausragendem Engagement für soziale Bürgerrechte, für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben einsetzen. Das passt vortrefflich auf Friedhelm Hengsbach. Leuchtfeuer strahlt nicht nur aus seinen Augen, Leuchtfeuer ist er selbst, sind seine Botschaften in einer Zeit, in der vor lauter Tanzen um das goldene Kalb des Kapitals die Mitmenschlichkeit verloren zu gehen droht und es für viele in unserem Lande dunkel geworden ist. Wie gut, dass es Menschen wie Friedhelm Hengsbach gibt, der unbeirrt und überzeugend zu begründen vermag, warum es Not tut, geboten ist und sich lohnt, sich für Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft stark zu machen, und dem es damit gelingt, Leuchtfeuer auch bei anderen in Herz und Verstand anzufachen. Der Preis ist wie für ihn maßgeschneidert, er hat ihn verdient.
Herzlichen Glückwunsch, lieber Friedhelm Hengsbach!