Der Rat der Evangelischen Kirche hat eine Denkschrift zur Armut im reichen Deutschland vorgelegt. Armut ist materielle Verelendung, aber vor allem mangelnde Teilhabe an der Gesellschaft und Ausschluss aus ihr.
Die Denkschrift belegt, dass bei der Festlegung der Regelsätze des Arbeitslosengelds II Willkür und haushaltspolitische Rücksichten maßgebend sind. Folglich garantieren die staatlichen Fürsorge-Leistungen nicht das von der Verfassung gebotene sozio-kulturelle Existenzminimum.
Ein geschärfter Blick ist auf die extreme und verdeckte Armut außerhalb der staatlichen Fürsorge-Leistungen und jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit gerichtet. Die Gesichter der Armut werden unter Kindern, alleinerziehenden Frauen und ausländischen Haushalten ausgeleuchtet. Den Leistungsberechtigten wird ein Anspruch auf das sozio-kulturelle Existenzminimum eingeräumt. Soziale Reformen werden mit beschäftigungspolitischen Initiativen verklammert. Die kirchliche „Option für die Armen“ wird befreiungstheologisch im schöpferischen und heilsamen Handeln Gottes verankert, der das Volk Israel aus dem Arbeitshaus Ägypten heraus führt.
Dass eine der Groß-Kirchen ein zentrales Thema aus dem vor neun Jahren veröffentlichten Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage aufgreift, ist wunderbar, löst aber auch eine ziemliche Verwunderung aus.
Warum wird das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit und damit das politische Recht der Bürgerinnen und Bürger, an den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen sich aktiv zu beteiligen und selbst darin zu vertreten, gegen „gerechte Teilhabe“ ausgetauscht? Teilhabe erinnert an die platonisch-christliche Metaphysik, da das höchste Wesen die geringerwertig und untergeordnet Seienden an der Fülle des Guten teilhaben lässt. Oder sie entstammt der Bildwelt des mystischen Leibes, an dessen Lebensprinzip die einzelnen Organe teilhaben. Aber weder feudale Hierarchien noch bio-kybernetische Systeme passen auf demokratische Gesellschaften.
Welche Umschichtung von Rechten und Pflichten verbirgt sich hinter der zauberhaften Synthese aus Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit? Indem der Sozialstaat seinen Rückzug aktiviert, befähigt er die Armen nicht, ihre eigenen Lebenschancen zu ergreifen, selbst Verantwortung zu übernehmen, Wege aus der Armut zu suchen und an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken.
Individuelle Befähigung ist auf kollektive Gegenmacht angewiesen. Die erste Frage wirtschaftlicher Gerechtigkeit ist die Rechtfertigung kapitalistischer Machtverhältnisse. Darüber verliert die Denkschrift kein Wort.
Wie rechtfertigt die Denkschrift das auffällige Übergewicht der Bildungspolitik? Sie nennt zwei Ursachen der Verarmung: Arbeitslosigkeit als entscheidenden Risikofaktor und mangelnde Bildung, die unter allen Faktoren am deutlichsten durchschlägt.
Warum ist die Denkschrift auf den Mikro-Blick des deutschen Arbeitsmarkts und der Kostenbelastung der Arbeitsverhältnisse fixiert, selbst im spielerischen Vergleich mit anderen Ländern? Abgeleitete Arbeitsmärkte erholen sich, sobald die Finanz- und Gütermärkte öffentliche und private Real-Investitionen anregen. Bloße Arbeitsmarkt-Initiativen sind ein schlechtes Alibi für Wachstums- und Beschäftigungspolitik.
Die christliche Kirche seit ihren Anfängen an der Seite der Armen? Ein hehrer Wunsch, der im letzten Abschnitt der Denkschrift von den Tatsachen eingeholt wird. Das bildungsbürgerliche Milieu deutscher Kirchengemeinden ist den Armen fremd und von ihren Lebenserfahrungen weit entfernt.