„Ich bin noch immer unbefriedigt.“ Dieses Lied hat Rolf Schwendter 1969 als Antwort auf den Rolling-Stones-Song „I can’t get no Satisfaction“ veröffentlicht. Bei der Verleihung des Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte am Montag (30. Juni) sang der Preisträger seinen Song im Historischen Saal des Marburger Rathauses.
Prof. Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter ist bereits der vierte Träger des Marburger Leuchtfeuers. 2005 hatten die Stadt Marburg und die Humanistische Union (HU) die Auszeichnung erstmals vergeben. Preisträgerin war damals die Frankfurter Hörfunk-Journalistin Ulrike Holler. Ein Jahr später folgte der Frankfurter Sozialethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ. Trägerin des Marburger Leuchtfeuers 2007 war die langjährige Marburger Gewerkschaftsvorsitzende Käte Dinnebier.
Mit Schwendter haben die Stadt und der HU-Ortsverband Marburg auch 2008 wieder eine herausragende Persönlichkeit gewürdigt. In seiner Begrüßung skizzierte Oberbürgermeister Egon Vaupel die wesentlichen Stationen im bisherigen Leben des Kasseler Devianz-Forschers, Polit-Aktivisten, Autors, Liedermachers, Regisseurs und engagierten Streiters für eine Kultur der Selbstbestimmung und Sozialen Gerechtigkeit.
Geboren wurde er im August 1939 in Wien als Rudolf Scheßwendter. Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer in Kassel von 1975 bis 2003 engagierte sich der Inhaber eines Lehrstuhls für Subkultur-Forschung in zahlreichen Arbeitskreisen, politischen und sozialen Gruppen sowie als Liedermacher, Lyriker und Dramaturg des „Ersten Wiener Lesetheaters“.
Schwendter sei „ein Aufklärer im besten, klassischen Sinne“, hieß es in der Preisbegründung. „Er ist eine Art intellektueller Zehnkämpfer“, fasste Jury-Sprecher Jürgen Neitzel das vielfältige Wirken des Preisträgers zusammen. „So hat er Doktortitel erworben in drei sehr unterschiedlichen Fachgebieten wie Jura, Politikwissenschaft und Theaterwissenschaft/Philosophie.“
Bewundernswert findet die Jury, wie ein Mann auf so vielen Gebieten bleibende Leistungen – Bücher und Projekte – hervorbringen konnte. Sein Geheimnis sei dabei vermutlich die Ernsthaftigkeit, mit der er sich auf sein Gegenüber und auf die Gegenstände einließ. Auch Tuchfühlung mit den Randständigen in der Gesellschaft scheute er nicht.
In seinen Seminaren kamen Urchristen und Hippies vor, „Rocker, Vaganten, Ghetto-Juden, Bohemiens, Fürsorge-Zöglinge, Körperbehinderte, vielfarbige Minoritäten, die deutsche Jugendbewegung, die Irren, die Punks“. Gemeinsam mit den Studierenden suchte er „Alternativen zum Irrenhaus, zum Heim, zum Gefängnis, zur Zweier-Beziehung, zur kleinfamilialen Kinderaufzucht, zur Vereinzelung, zur Hochkultur, zur ausbeuterischen Ökonomie“ und zum Konsum als Grundhaltung.
Der rote Faden im Gesamtwerk Schwendters sei die gelebte Überzeugung eines Demokraten, der für volle kulturelle, politische und soziale Teilhabe aller Menschen eintritt.
Nachdem der ursprünglich als Laudator gewonnene Konstanzer Theaterintendant Prof. Dr. Christoph Nix wegen einer Erkrankung kurzfristig abgesagt hatte, trug der Schauspieler Uli Düwert vom „Schnaps- und Poesie-Theater Marburg“ eine Laudatio vor, die der Jury-Sprecher aus allgemein zugänglichen Quellen sowie aus kurzfristig eingeholten Beiträgen von Schwendters Freunden und Mitstreitern zusammengestellt hatte. Darin wurden seine Einflüsse auf die Anti-Psychiatrie-Bewegung, die Bewegung hin zu einer Alternativen Ökonomie und Alternativen Betrieben, für die Gesundheitsläden und für das Mainzer „Open-Ohr-Festival“ hervorgehoben. In sehr unterschiedlichen Bereichen hat Schwendter nachhaltige Spuren hinterlassen.
Einen Höhepunkt der Laudatio bildete auch ein Gedicht, das Schwendters Sohn Ray Scheßwendter anlässlich des 65. Geburtstags seines Vaters formuliert hatte. Darin schrieb Scheßwendter, sein Vater sei ein „krasser Tausendsasser“.
Den krönenden Abschluss der Laudatio bildete ein Satz des Künstlers Thilo Götze Regenbogen. Er hatte in der Festschrift zum 65. Geburtstag Schwendters einen Artikel unter die Überschrift gestellt: „Manche regieren die Welt, andere sind die Welt“.
Im Anschluss an Düwert trug Erdmuthe Sturz ein weiteres Gedicht vor, das Marlis Cavallaro der Jury übermittelt hatte. Sie hatte es bereits zum 50. Geburtstag Schwendters im Jahr 1989 geschrieben. Es trägt den Titel: „Langsam spürt der Herzschlag.“
Als Preis erhielt Schwendter anschließend vom Oberbürgermeister und dem Sprecher der Jury neben einer gerahmten Urkunde ein Gemälde der Kirchhainer Malerin Monika Sohn sowie einen Blumenstrauß.
Vermutlich werde das Marburger Leuchtfeuer auch weiterhin notwendig bleiben, hatte Oberbürgermeister Vaupel bereits in seiner Begrüßung erklärt. Dieser Prognose schloss sich der Preisträger in seiner Dankesrede an: „Bedauerlicherweise fürchte ich, dass die Vergabe des Marburger Leuchtfeuers noch auf längere Sicht hin erforderlich sein wird. Um die sozialen Bürgerrechte steht es nach wie vor schlecht. Den allermeisten Menschen, sofern sie nicht selbst unmittelbar betroffen sind, erscheinen selbst die Allgemeinen Bürger- und Menschenrechte als zu viel, als Thema einer Sonntagsrede in den jeweils besseren Tagen. Entgegen der berühmten Sätze von Voltaire und Rosa Luxemburg besteht ihnen die Meinungsfreiheit zuvörderst für die jeweils eigene Meinung, die Pressefreiheit für das Recht, auf möglichst marktschreierische Weise viel Geld zu verdienen, das Asylrecht für das Ensemble von Maßnahmen, viele Menschen vom jeweiligen Staatsgebiet außen vor zu halten.“
In gewisser Hinsicht schließe sich mit der Preisverleihung ein Kreis. Er ermögliche es Schwendter, seine Dankesschuld an die Humanistische Union abzutragen: „Als ich vor einigen Jahrzehnten noch ein jüngerer Mensch war, waren es nicht allzu selten gerade Mitglieder der Humanistischen Union, von welchen ich am meisten gelernt habe. Beispielsweise nenne ich hier den Mitbegründer der Zukunftsforschung, Ossip Flechtheim, den vor wenigen Wochen verstorbenen engagierten Psychoanalytiker Hans Kilian sowie meinen langjährigen Kollegen Ulrich Sonnemann.“
Franz-Josef Hanke