Bildung für alle! – Preisbegründung der Jury für das Marburger Leuchtfeuer 2011

Um die Preiswürdigkeit der Leistung von Katja Urbatsch zu ermessen, braucht es eine Untersuchung des Bildungssystems, auf das sich ihr Projekt ArbeiterKind bezieht. Ausgangspunkt ist dabei ein gesellschaftlicher Missstand. Die Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft für Bildungsaufstiege aus dem Migranten- und Arbeitermillieu ist beklagenswert gering.

Ausgerechnet dem reichen Deutschland und seinem Bildungssystem stellt die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn schlechte Noten aus.

Einem Bildungsweg bis zum Hochschulabschluss auch für Kinder aus finanziell schwachen Familien stehen keineswegs nur zu gering ausgelegte Stipendienprogramme entgegen. Die Nachteile für Kinder aus bildungsfernen Familien werden durch das Schulsystem nicht ausgeglichen, sondern sogar eher noch vergrößert.

Dabei bräuchten diese Jugendlichen schon in der Schule sowohl didaktische und finanzielle Unterstützung als auch psychologische Ermutigung. Dann stiegen ihre Chancen, sich selbst und ihre Eltern zu überzeugen, dass ein Studium ein gangbarer Weg für sie sein könnte.

An der Hochschule angekommen, haben sie dann weitaus größere Finanzierungs- und Orientierungsprobleme als ihre Kommilitonen aus Akademikerfamilien. Wer in seinem Herkunftsumfeld niemanden hat, den er in Entscheidungssituationen ohne Umstände um Rat fragen kann, der übersieht manche Möglichkeiten.

Die Studentenwerke kommen dem stark gestiegenen Beratungsbedarf kaum noch nach. Der Kampf ums materielle Überleben absorbiert Zeit und Kraft, die andere für ihr Studium einsetzen können.

Die speziellen Problemlagen von Studierenden aus finanzschwachen Familien fallen angesichts der schlechten Rahmenbedingungen für gewöhnlich unter den Tisch. Sehr dunkel sähe es aus, wenn es da nicht mit Katja Urbatsch und ihrem Projekt „ArbeiterKind“ seit 2008 einen neuen Hoffnungsträger gäbe, der die soziale Teilhabe und den Bildungsaufstieg ganz besonders ins Blickfeld rückte.

Mental ist man als Abkömmling der bildungsfernen Schichten häufig mit Arroganz, unbekannten Sprachcodes und Verhaltensstandards der Kommilitonen aus Wohlstandsmilieus konfrontiert. Der Kampf um Anerkennung kostet eine Menge Kraft und Überwindung von Kränkungen.

Wer so beständig zu kämpfen hat, gründet normalerweise keine Vereine zur Behebung gesellschaftlicher Missstände. Hierin unterscheidet sich Katja Urbatsch von den meisten Betroffenen.

Sie hat beim Nachdenken nicht nur über den eigenen Tellerrand hinaus geblickt, sondern ist mit der Gründung eines auf Dauer angelegten Projekts zum Handeln übergegangen. Naturgemäß kostet der Aufbau eines solchen Netzwerks viel Arbeit, Zeit und Nerven.

Um in diesen unübersichtlichen Zeiten des Neoliberalismus ein Humanist und Aufklärer zu sein, braucht man überdurchschnittlichen Mut und Kraft. Die muss man in seiner Persönlichkeit schon mitbringen, denn leicht ist Zuversicht gegen alle Widerstände nicht durchzuhalten.

Nach außen muss man – wie es Katja Urbatsch offenkundig gelingt – als Kommunikator Überzeugungskraft und Charisma ausstrahlen. Denn man hat Gegnerschaften zu überwinden und Förderer sowie Mitstreiter für das eigene Anliegen immer neu zu gewinnen.

Um aus dem kleinen Pflänzchen einer Projektgruppe mehr als ein kurzfristiges Strohfeuer zu machen, braucht es langen Atem. Man benötigt eine Vision praktikabler Ziele und Methoden.

Mit ihrem Verein „ArbeiterKind“ hat Urbatsch durch viel eigene Tatkraft einen großen Beitrag zur sozialen Teilhabe finanziell schwacher Menschen am gesellschaftlichen Leben erbracht. Der – durch die Arbeit dieses Vereins gestärkte und aauch in der Debatte um Studiengebühren – freie Zugang zur Bildung Benachteiligter ist ein ermutigender Ansatz, um die Sozialen Bürgerrechte in ganz Deutschland ein Stück weit voranzubringen. Da das Modell seit neuestem auch in Österreich einen Ableger hat, ist es sogar dabei, ein europäisches Netzwerk zu werden.

In Urbatschs Projekt sieht die Jury das klassische Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ im besten Sinne verwirklicht. Außerdem ist das Prinzip des „Peer Counciling“ – also Hilfe von Betroffenen für Betroffene – ein Garant dafür, dass das Mentoring nahe an den Bedürfnissen seiner Nutzer bleibt.

Daher hat die Jury Katja Urbatsch das „Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte“ 2011 einstimmig zuerkannt. Sie würdigt damit herausragendes Engagement für den gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu Bildung und sozialem Aufstieg als ein Leuchtfeuer, das der Gesellschaft den Weg zu mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung von Lebenschancen weisen kann.

Jürgen Neitzel

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