preisverleihung 2011Den 3000. Mitstreiter wünschte Thorsten Schäfer-Gümbel der Leuchtfeuer-Preisträgerin Katja Urbatsch. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag hielt am Dienstag (19. April) im Historischen Saal des Marburger Rathauses die Laudatio auf die Gründerin des Netzwerks „arbeiterkind.de“.
Vor gut 80 geladenen Gästen würdigte Schäfer-Gümbel das Engagement der 32-jährigen Anglistin zugunsten eines gleichberechtigten Zugangs zu Studium und Ausbildung. Im Jahr 2008 hatte die Anglistin gemeinsam mit anderen das – inzwischen international tätige – Netzwerk gegründet, das studierwilligen Abkömmlingen bildungsferner Schichten bei einer akademischen Ausbildung helfen will.
Für diese Leistung hatte die Jury ihr einstimmig das Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte zuerkannt. Seit 2005 vergeben die Humanistische Union (HU) und der Magistrat der Universitätsstadt Marburg diese undotierte Auszeichnung an Personen, die sich in herausragender Weise für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben eingesetzt haben.
Insbesondere Menschen aus sozial benachteiligten Familien möchte die Preisträgerin zu einem Studium ermutigen. Aus eigener Erfahrung heraus hat sie deswegen das Netzwerk ArbeiterKind aufgebaut.
Beratung und Mentoring führt die gemeinnützige Organisation dabei vor allem in örtlichen Gruppen an den Standorten größerer Universitäten durch. Vernetzt werden sie durch eine Internet-Plattform, die mögliche Mentees mit passenden Mentoren vermitteln soll. Zudem betreibt das Netzwerk Büros an verschiedenen Studienorten.
Auf die Notwendigkeit dieser Arbeit verwies schon Franz-Josef Hanke als Vertreter des HU-Ortsverbands Marburg in seiner Begrüßungsansprache. Im Gedenken an die – am 8. August 2010 verstorbene – Leuchtfeuer-Preisträgerin Käte Dinnebier, die ihren Lebensweg von der Hilfsarbeiterin bis zur Gewerkschaftsvorsitzenden allein durch das Wissen aus der „sprichwörtlichen Schule des Lebens“ habe bewältigen müssen, veranschaulichte er die Verbindung zwischen der Leuchtfeuer-Preisträgerin des Jahres 2007 und der Arbeit der Leuchtfeuer-Preisträgerin 2011.
In seiner Ansprache erinnerte Oberbürgermeister Egon Vaupel an den Kampf gegen die Studiengebühren in Hessen. Er zeigte sich stolz darüber, dass Studierende hier in Marburg gemeinsam mit allen anderen gesellschaftlichen Schichten für freie Bildung eingetreten waren.
Den Wert des Potentials der Abkömmlinge sozial benachteiligter Schichten für das deutsche Bildungssystem beschrieb der Giessener Universitätspräsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee in seinem Grußwort. Mit ihrem Netzwerk trage Urbatsch dazu bei, „diesen Schatz zu heben“.
Ähnlich äußerte sich auch Schäfer-Gümbel in seiner Laudatio. Die Preisträgerin bezeichnete er als „Brückenbauerin“. Ihr sei es zu verdanken, dass der Präsident der Justus-Liebig-Universität (JLU) in Gießen vom Marburger Oberbürgermeister im Rathaus willkommen geheißen werde, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt.
Mit schelmischer Genugtuung zitierte Schäfer-Gümbel die Begründung der hessischen Landesregierung, wonach die kulturellen Unterschiede zwischen Marburg und Gießen sehr groß und deswegen kaum überbrückbar seien. Noch vor wenigen Jahren sei so das Scheitern einer geforderten Zusammenarbeit zwischen den Bühnen in beiden Städten gerechtfertigt worden, erklärte der Landtagsabgeordnete belustigt.
Die Überbrückung sozialer Unterschiede sei indes das Hauptanliegen der Preisträgerin. Hier machte er die besondere Stärke ihres Einsatzes für einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung aus.
Nach internationalen Studien gleiche gerade das deutsche Bildungssystem die unterschiedlichen Voraussetzungen zwischen Menschen aus bildungsfernen Schichten und Sprösslingen akademischer Familien kaum aus. Nirgendwo anders in Europa bestimme die soziale Herkunft so stark über den weiteren beruflichen Werdegang wie in Deutschland.
Durch ihre eigenen Erfahrungen sei Urbatsch auf diesen Missstand gestoßen worden. Bewundernswert fand Schäfer-Gümbel aber die erfolgreiche Antwort der Preisträgerin, die innerhalb von weniger als drei Jahren bereits fast 3.000 Menschen als Mentoren oder Berater für ihr Projekt gewonnen habe.
„Mit ihrem Verein ArbeiterKind hat Urbatsch durch viel eigene Tatkraft einen großen Beitrag zur sozialen Teilhabe finanziell schwacher Menschen am gesellschaftlichen Leben erbracht“, schrieb die Jury in ihrer Preisbegründung. „Der – durch die Arbeit dieses Vereins gestärkte und auch in der Debatte um Studiengebühren geforderte – freie Zugang zur Bildung Benachteiligter ist ein ermutigender Ansatz, um die Sozialen Bürgerrechte in ganz Deutschland ein Stück weit voranzubringen.“
In Urbatschs Projekt sieht die Jury das klassische Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ im besten Sinne verwirklicht. Außerdem sei das Prinzip des „Peer Counciling“ – also Hilfe von Betroffenen für Betroffene – ein Garant dafür, dass das Mentoring nahe an den Bedürfnissen seiner Nutzer bleibt, erklärte Jürgen Neitzel als Sprecher des Auswahlgremiums.
Beim Vortrag der Preisbegründung verwies er auf seine eigene Herkunft aus einer nicht-akademischen Familie und Erfahrungen während seines Studiums, die mit denen der Preisträgerin vergleichbar seien. Daher könne er den Wert dieser Arbeit sehr gut ermessen, betonte Neitzel. Mit dem „Marburger Leuchtfeuer“ würdige die Jury „herausragendes Engagement für den gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu Bildung und sozialem Aufstieg als ein Leuchtfeuer, das der Gesellschaft den Weg zu mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung von Lebenschancen weisen kann“.
In ihrer Dankesrede wandte sich die Preisträgerin vor allem an die Mitstreiter in ihrem Beratungsnetzwerk. Ohne die Mithilfe so vieler unterschiedlicher Menschen sei ein dermaßen großer Erfolg nie möglich gewesen.
Aktive der Marburger und der Giessener Gruppe freuten sich dann auch mit der Gründerin ihrer Organisation über die neuerliche Ehrung von arbeiterkind.de. Schließlich hatte das Netzwerk schon vorher einige Auszeichnungen erhalten.
Mit dem „Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte“ haben die HU und die Stadt Marburg allerdings vor allem den emanzipatorischen Charakter von Urbatschs Projekt herausgestellt. Für den Laudator Schäfer-Gümbel hat es überaus erfolgreich eine Lücke geschlossen, die nicht nur den Betroffenen selbst zum Nachteil gereiche, sondern auch dem Bildungssystem und der Wirtschaftskraft sowie letztlich der gesamten Gesellschaft.