Preisbegründung der Jury – Marburger Leuchtfeuer 2012 an Dr. Bernhard Conrads

Matthias Schulz

Im Historischen Saal begründete Matthias Schulz die Entscheidung der Jury. (Foto: Jürgen Neitzel)

Für sein jahrzehntelanges Wirken zugunsten der Inklusion und Selbstbestimmung von Behinderten verleiht die Jury Dr. Bernhard Conrads das Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte. Mit hoher Resonanz ist er für eine öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung als lebensbejahende und selbstbewusste Mitbürger eingetreten. Zudem hat er sich in vielen praktischen Fragen für verbesserte Bedingungen ihrer Teilhabe am sozialen, politischen und kulturellen Leben eingesetzt.

1979 hatte Conrads seine vorherige Tätigkeit bei einer Unternehmensberatung aufgegeben, um sich einer sinnreicheren Aufgabe zuzuwenden. Zunächst war er stellvertretender Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe, bevor er 1988 die Leitung der bundesweiten Organisation übernahm.

Die großen Fußstapfen seines Vorgängers Tom Mutters haben ihn nicht eingeschüchtert, sondern zu besonderen Anstrengungen herausgefordert. Vor allem den Umbau der Lebenshilfe von einer Elternvereinigung hin zu mehr Mitbestimmung der Betroffenen hat er tatkräftig vorangetrieben.

In seine Amtszeit fielen die deutsche Wiedervereinigung und der Aufbau von Lebenshilfe-Vereinigungen in Ostdeutschland. Angesichts der zuvor verbreiteten Praxis geringschätzigen Umgangs mit geistig behinderten Menschen mussten er und seine Mitstreiter dabei gegen vielfältige Vorurteile ankämpfen.

Ähnlich erging es ihnen auch bei der Unterstützung von Organisationen für Menschen mit geistiger Behinderung in Osteuropa. In mehreren Ländern hat Conrads engagierten Angehörigen die Erfahrung der bundesdeutschen Lebenshilfe zur Verfügung gestellt.

Verdient gemacht hat er sich auch um die Anerkennung der Kunst behinderter Menschen. Dank der Expertise seiner Ehefrau Doris Conrads konnte er die schöpferische Kraft behinderter Künstler würdigen und angemessen fördern. Dadurch kam es zu Ausstellungen geistig behinderter Künstler. Bundesweite Bekanntheit erlangte das „Rudi-Design“, das der Dillenburger Künstler Rudi Diessner entworfen hat.

Zusätzlich zu seiner Funktion bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe (BVLH) war Conrads viele Jahre lang 2. Vorsitzender der Deutschen Behindertenhilfe Aktion Mensch (AM). Maßgeblich mitorganisiert hat er den Namenswechsel von einer eher paternalistischen „Aktion Sorgenkind“ zur heutigen „Aktion Mensch“. Neue Förderprogramme mit mehr Unterstützung von Eigeninitiativen behinderter Menschen anstelle der früher vorherrschenden Bezuschussung von Fahrzeugen, Bauten und anderen Einrichtungen gehen ebenfalls auf seine Initiative zurück.

Schließlich war Conrads Mitbegründer gleich mehrerer internationaler Behindertenorganisationen. Nachdem die Paralympics nicht die gewünschte Offenheit gegenüber Sportlern mit geistiger Behinderung gezeigt hatten, gründeten er und andere die Organisation „Special Olympics“. Außerdem hat er nach seiner Pensionierung den internationalen Kongress „Inclusion International“ in Berlin organisiert.

In all diesen Funktionen hat er sich fortwährend für die soziale Integration bei möglichst viel Selbstbestimmung der Betroffenen eingesetzt. Leitmotiv war ihm die Einbeziehung behinderter Menschen in alle Entscheidungen. Die Öffnung hin zu integrativen Konzepten trieb er voran.

Die UN-Konvention für die Rechte Behinderter trägt auch die Handschrift unseres heutigen Preisträgers. Ihre Forderung nach „Inklusion“ ist die Leitlinie für eine lebenswerte Gesellschaft, in der jeder Mensch seine individuellen Fähigkeiten entfalten kann und bedingungslos von allen respektiert wird.

Zuletzt hat sich Conrads auch in die aktuelle Debatte über den „Demografischen Wandel“ eingeschaltet. Auch bei der Versorgung alter Menschen sollten wohnortnahe ambulante Strukturen Vorrang haben vor der Unterbringung in Heimen.

Nach seiner Überzeugung dürfen Menschen nicht nach ihrer Verwertbarkeit im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben beurteilt werden. Leider hat sich gerade diese neoliberale Haltung in den letzten Jahren zunehmend breitgemacht. Ihr setzt Conrads die humanistische Erkenntnis entgegen, dass jeder Mensch einen undiskutierbaren Wert besitzt, der niemals in Frage zu stellen ist. Einen perfekten Menschen gibt es nicht!

Das gilt nicht nur für ältere Menschen und Behinderte. Auch wenn jemand an einem neuen Arbeitsplatz nicht sofort „funktioniert“, hat er trotzdem das Recht auf existenzsichernde Arbeit.

Die Jury verleiht Dr. Bernhard Conrads das „Marburger Leuchtfeuer 2012“ für sein entschiedenes und nachhaltiges Eintreten für den Respekt vor allen Menschen ungeachtet ihrer geistigen, körperlichen und seelischen Fähigkeiten. Die Humanistische Union teilt die Auffassung des Lebenshilfe-Gründers Tom Mutters: „Am Umgang eines Gemeinwesens mit den Schwächsten erkennt man den Grad der dort verwirklichten Demokratie.“

Mathhias Schulz

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