Behindertengerecht ist menschengerecht – Dankesworte des Preisträgers Dr. Bernhard Conrads

Preisverleihung 2012

Im Historischen Saal erhielt Dr. Bernhard Conrads die Urkunde zum Marburger Leuchtfeuer. (Foto: Ute Schneidewindt)

Dr Bernhard Concrad bedankte sich für das Marburger Leuchtfeuer 2012 im Historschen Saal des Marburger Rathauses.

Liebe, verehrte Anwesende,

Als mich vor einigen Wochen Herr Hanke anrief, und mich in seiner bekannten ruhigen Art wissen ließ, dass die HU mir das „Marburger Leuchtfeuer 2012“ zuerkannt hat, war ich …zuerst einmal „geplättet“.

Es lag völlig außerhalb meines Vorstellungsvermögens, mit dieser hohen Auszeichnung geehrt zu werden. Zumal sie über die Grenzen Marburgs hinaus sehr wohl wahrgenommen wird. Sie macht ihrem Namen „Leuchtfeuer“ alle Ehre! Und zeigt, dass auch und geradeaus der „Provinz“ ganz wesentliche Impulse kommen.

Ich war auch deswegen mehr als überrascht, als ich jetzt ja schon fast drei Jahre nicht mehr hauptamtlich tätig bin … und da gleitet man nicht selten schon so langsam ins Vergessen werdens hinein…

Das ist gar nicht so schlecht, denn damit wird auch jenes mit dem barmherzigen Mantel des Vergessens belegt, was auch vergessen werden sollte. Denn nicht immer ist alles gut gelaufen, nicht immer war redliches Bemühen mit Erfolg gekrönt.

Wenn – wie nun heute – dieser Vergessensprozess so jäh unterbrochen wird, ist das meist katapultartig … und verbunden mit Kaskaden von Anerkennung, die einen schon verlegen machen. Nicht frei von Selbstzweifeln frage ich mich schon. Bist Du das wirklich, über den da geredet wird?

Sei es wie es sei – ich freue mich riesig über diesen Preis, danke von Herzen der Jury und allen, die dazu beigetragen haben, dass ich heute so hier stehen darf.

Hier stehe ich im historischen Rathaussaal. So danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, hier sein zu dürfen. Besonders aber danke ich Ihnen für Ihre Worte ….

Marburg und Lebenshilfe … das ist in den letzten Jahren kein leichtes Thema. Ich erinnere mich gut, als ich eines Montagmorgens mit meinem damaligen Kollegen Ulrich Bauch in Ihrem Büro saß und Ihnen zu vermitteln hatte, dass die BVLH zumindest teilweise nach Berlin geht. Ich glaube, so richtig haben Sie es uns nicht geglaubt, dass wir bemüht sein werden, den Standort Marburg für unsere BGST aufrecht zu erhalten.

Nun, heute sehen Sie recht viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die nach wie vor bei der BVLH arbeiten – hier im Raum. Und: Im September wird die nächste Mitgliederversammlung mit über 500 Gästen wieder hier in Marburg sein. Es wird eine ganz besondere MV sein, in der Robert Antretter sein Amt nach 12 Jahren abgibt und sich Ulla Schmidt für seine Nachfolge zur Wahl stellt. Sie sehen, wir kehren mit unseren Mitgliedern immer wieder an den Ort der Tat, unserer Gründung, zurück und sind so Marburg verbunden.

Gründung – dies lässt mich an unseren Gründer denken: Tom Mutters lebt mit 95 Jahren zusammen mit seiner Frau Ursula nach wie vor mitten unter uns: Und ich sende meinen Dank an ihn von dieser Stelle mit großer Hochachtung für sein Lebenswerk, die LH, und mit herzlichster Verbundenheit … denn ohne ihn würde ich heute hier nicht stehen.

Herzlicher Dank gilt Dir, lieber Ottmar! Dass Du hier bist und so überaus freundliche Worte für mich gefunden hast, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie sollten wissen: Dieser Ottmar Miles-Paul – heute Beauftragter für die Belange behinderter Menschen im Bundesland Rheinland Pfalz – und damit ganz nahe an der Landesrregierung und dem MP – ist an sich ein …Revoluzzer! Allerdings – von der „guten“ Sorte: Hart in der Sache, aber fair im Umgang!

Wir kennen uns knapp 30 Jahre … und am Anfang unserer Beziehung war dies eher ein „Aufeinandertreffen“. Denn Otmar MP kam – frisch aus den USA und infizierte mit den Gedanken der US-Amerikanischen Behindertenpolitik, war selbst jahrelang GF der Interessengemeinschaft selbstbestimmt leben und hat als freier Journalist und Aktivist die Szene der Behinderten Verbände durchaus durcheinandergewirbelt.

Es würde zu weit führen, hier in die Tiefe zu gehen: Heute aber kann ich eines gestehen: Du hast mich ordentlich in Loyalitätskonflikte mit meinem Arbeitgeber gebracht. Denn an sich fand ich – fast alles gut, was Du gesagt hast… aber es war nicht gerade die offizielle Meinung eines etablierten Behindertenverbandes und seiner Einrichtungen. Und so habe ich versucht, von Dir einiges aufzunehmen, neu zu verpacken, und so in „meine Welt“ zu implantieren.

Und irgendwann hast Du dann wohl geglaubt, dass es mir und uns ernst ist mit dem Thema „Integration“ oder „Empowerment“.

Spätestens wohl seit der Namensänderung der Aktion Mensch, die bis 2000 Aktion Sorgenkind hieß. Ich freue mich, heute hier den ehemaligen Geschäftsführer der AM Dieter Gutschick und seine Frau begrüßen zu können. Wir beide waren damals – was die Namensänderung anbetrifft – ein „dream team“.

Diese Namensänderung war mehr als ein Marketing-Detail. Sie stand für ein Umdenken im Bereich der Behindertenpolitik: Behinderte Menschen wollten keine Sorgenkinder mehr sein, die man bemitleidet und betüddelt. Sie wollten dabei sein, ernst genommen werden, mitreden ..als Mitbürger mit Pflichten und Rechten zeigen, was sie können und dass sie sich am Leben freuen können,…

…wenn, ja wenn man ihnen mit Respekt begegnet und die Verhältnisse so verändert, dass sie sich am behinderten Menschen ausrichten. Das ist dann – um wenigstens einmal dieses Wort untergebracht zu haben – Inklusion.

Etwas leisten und sich am leben freuen: Das will auch Special Olympics erreichen, die Sportbewegung von und für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Viele von Ihnen wissen es, dass ich dort mein gewichtigstes Ehrenamt innehabe. Uns so freue ich mich, dass Gernot Mittler bei uns ist, der Präsident von SOD. Herr Mittler war lange Jahre Finanzminister in … Rheinland Pfalz! Und so werden wir hier gleich zweimal durch unseren westlichen Nachbarn beehrt.

Dass Gernot Mittler hier ist, freut mich auch deswegen ganz besonders, weil am sehr bald, in weniger als 3 Wochen, in München die Nationalen Spiele von SO eröffnet werden und er als Präsident natürlich besonders gefordert ist. Mit 5.000 Sportlerinnen und Sportlern – auch einer Fußballmannschaft der Lahnwerkstätten – 3.000 Teilnehmern am wettbewerbsfreien Angebot, und tausenden freiwilligen Helfen gibt es über 14.000 Aktive bei diesen Spielen. Am 20. Mai werden die Fans – nach hoffentlich gutem Ende für den FCB – im OlympiaPark feiern, um unmittelbar danach den Staffelstab an unsere Athletinnen und Athleten weiterzugeben. 40 Jahre nach den legendären Olympischen Spielen 1972 wird erstmals wieder ein Olympisches Feuer in München leuchten – weil es Menschen gibt, die wir – manchmal ein wenig leichtfertig – geistig behindert nennen.

Ich freue mich, auch Mitglieder des Rotary Club Marburg – an ihrer Spitze den zukünftigen Präsidenten Professor Maisch – begrüßen zu können. Auch der RC Marburg ist eine Plattform sozialen Engagements.

Mein Dank gilt Dir, lieber Holger! Dass ich Dich als alten Freund mag und Deine Kunst zu schätzen weiß, weißt Du. Ganz besonders freut mich, dass Du –gleichsam in memorian – den „Normal“-Song unseres Haus- und Hofgenossen Rudi Merten hast auferstehen lassen, freut mich um so mehr. Den alten Rocker wird es da oben auf einer Rocker-Wolke freuen, dass gerade dieser Song heute hier in Marburg ein revival erfährt.

Wenn ich jetzt so weitermache und jeden von Ihnen mit ein paar persönlichen Anmerkungen begrüße, dann säßen wir heute abend noch da. Sie hätten es verdient, denn jeder von Ihnen spielt in meinem Leben eine Rolle, die ich nicht missen möchte. Ich würde mich aber unbeliebt machen. Daher an dieser Stelle: Ein herzliches Dankeschön, dass Sie alle da sind und mit mir feiern, was wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben und vielleicht noch werden.

Gestatten Sie mir am Schluss einen Blick in die Zukunft:

Im Foyer, wo wir gleich noch ein wenig zusammen sein können, finden Sie eine Stellwand und Materialien der AM mit dem Motto:

Jede Barriere ist eine Barriere zu viel!

Am 5. Mai ist der Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen … ein Tag, der einmal zu den wilden Zeiten von Ottmar MP eingeführt wurde.

Wenn Sie diese Wand anschauen, werden Sie etwas lernen: Dass Barrierefreiheit mehr ist als der abgesenkte Bordstein oder der Aufzug oder die behindertengerechte Toilette. Das sollte Standard sein in allen Gebäuden, die für die Öffentlichkeit gedacht sind. Ist es zwar – auch in Marburg (noch) nicht – auch dort, wo nicht die Topografie oder das „alte Gemäuer“ gleichsam „Höhere Gewalt“ sind.

Barrierefreiheit für Blinde Menschen … hier sind wir in Marburg dank der Blista Gut dran. Ganz generell ist Marburg weit vorne und ist nicht unverdient auf Europäischer Ebene ausgezeichnet worden.

Barrierefreiheit für gehörlose Menschen bedeutet zum Beispiel, dass Gebährdendolmetscher viel mehr Eingang finden … etwa in Nachrichtensendungen im Fernsehen

Barrierefreiheit für Menschen mit geistiger Behinderung etwa bedeutet, dass viel verständlicher geredet wird. Wir nennen das leichte Sprache. Oder dass vieles über Piktogramme oder durch akustische Botschaften vermittelt wird. Wenn Sie die Internetseite www.lebenshilfe.de anklicken, können sie sich vieles vorlesen lassen!

Ein oft übersehenes Phänomen ist, dass Barrierefreiheit für behinderte Menschen …allen Menschen zu gute kommt.

Nehmen wir mal den öffentlichen Raum: Der abgesenkte Bordstein hilft Ihnen, wenn sie mit dem Trolley zum Bahnhof hetzen. Ein Aufzug oder eine Rampe sind gut für betagte Menschen oder junge Mütter oder Väter mit Kinderwagen. Ein betastbares Kunstwerk bringt jedem Museumsbesucher die Kunst näher. Ein leicht verständliches Formular füllte jeder von uns lieber aus als ein bürokratisches Ungetüm.

Und so könnte ich ad ultimo weitermachen, um einen Satz, eine Gleichung zu beweisen: Behindertengerecht = Menschengerecht! Wir alle werden es erleben, wenn wir älter werden.

Und das wollen wir – möglichst wenig eingeschränkt – doch alle. Und dabei erleben wir ganz nebenbei, dass viel dran ist an dem Satz: Behindert ist man nicht, behindert wird man!
Oder anders und ein wenig differenzierter ausgedrückt: Eine individuelle Einschränkung wird erst dann wirklich zur Behinderung, wenn wir mit ihr allein gelassen werden.

Gehen wir also mit wachsamen Augen durch unsere Stadt und achten wir auf Barrierefreiheit: Bei jedem öffentlichen Auftritt, bei jedem öffentlich Weg, bei jedem Öffentlichen Gebäude, das gebaut oder umgebaut wird: Achten wir auf Barrierefreiheit im umfassenden Sinne … so, dass dieser Weg, dieses Gebäude, dieses Schriftstück, diese Homepage … auch für Menschen mit eine Behinderung zugänglich ist.

Tun Sie das – von mir aus – aus blankem Egoismus, weil es auch Ihnen zugute kommt. Aber achten sie drauf!

Das ist mein Schluss-Appell. Nehmen Sie ihn bitte und tragen Sie ihn hinaus! Dann werden Sie zum Leuchtfeuer! So einfach ist das!

Dafür,…. dafür dass Sie hier sind und mir noch zugehört haben, dafür danke ich Ihnen!

Dr. Bernhard Conrads – 03.05.2012

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