Der blinde Journalist Jens Bertrams hielt am 15. Juni 2014 die Laudatio auf den Preisträger Dr. Ulrich Schneider.
Ich habe die Ehre, heute diese Laudatio zu halten, obwohl ich Sie, verehrter Herr Dr. Schneider, persönlich nur von zwei telefonischen Interviews her kenne. Üblich bei einer solchen Lobrede wäre nun eine möglichst detaillierte Aufzählung der Wirkungsstätten und der Projekte des geehrten, garniert mit persönlichen Anekdoten. Dies alles habe ich nur in sehr begrenztem Maße zu bieten.
Dass Sie im August 1958 in Oberhausen geboren wurden, aus einfachen Verhältnissen stammen und in Bonn und Münster, wo sie auch promovierten, Erziehungswissenschaften studierten, werden die meisten Anwesenden wissen. Auch dass sie nunmehr seit 15 Jahren der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes sind, dürfte zum Allgemeinwissen in dieser Runde gehören.
Vielleicht wäre noch erwähnenswert, dass Sie in Ihrer Freizeit Rockmusik machen. Wer weiß: Vielleicht kann unser hervorragender Musiker Jochen Schäfer Sie ja zu einem improvisierten gemeinsamen Lied überreden?
Statt mich also an Daten und Fakten abzuarbeiten, möchte ich vielmehr das zentrale Thema Ihrer Arbeit herausgreifen: Das Thema Armut. Was bedeutet Armut in einem der fünf reichsten Länder dieser Erde? Als Sie einmal von Martin Steinhage, einem Journalisten des Deutschlandradio Kultur, um eine möglichst nicht wissenschaftliche Definition von Armut gebeten wurden, sagten Sie sinngemäß: Armut sei, wenn man abgehängt werde, wenn man nicht mehr an Fußballspielen teilnehmen könne, während die Anderen immer noch in die Fan-Kurve gingen. Der gute Martin Steinhage hätte sich nicht sorgen müssen: Es ist nicht Ihre Art, verehrter Dr. Schneider, wissenschaftliche Definitionen herunterzurasseln. Sie wollen, dass man die Armut in diesem Land versteht, denn nur dann kann man sie wirksam bekämpfen. Dazu muss man sie erfahrbar machen, verständlich für Jedermann. Auch die versteckte Armut, auf die Sie immer wieder hinweisen. Die ehemalige Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Silvia Schmidt, berichtete mir einmal von Ferienfreizeiten, die sie für Kinder aus armen Verhältnissen durchführt. Sie sagte: „Diese Kinder wissen oft nicht, was eine regelmäßige warme Mahlzeit ist, aber sie besitzen drei Handys.“ Dass unser Land so reich ist, macht die Definition von Armut so schwierig und die Tatsache, dass es sie dennoch in so großem Ausmaß gibt, so schwer vermittelbar. Diese Vermittlungsarbeit übernehmen Sie in der Öffentlichkeit in wunderbarer, offener, sehr einfacher, kompetenter und freundlicher Weise.
Auch in der Politik wird viel von Armut gesprochen. Die Bundesregierung zum Beispiel gibt einen Armuts- und Reichtumsbericht heraus und schachert dann monatelang um seine Beschönigung, was ein menschenverachtendes Schauspiel ist und unseres Sozialstaates unwürdig. Und in der Bundestagsdebatte vom 17. Januar 2013 sagte der FDP-Abgeordnete Martin Lindner: „Es gibt in Deutschland eine Zunahme von Armutsberichten, aber keine Zunahme von Armut.“ Der Publizist Roger Willemsen, der zu diesem Zeitpunkt ein Jahr lang das Parlament von der Zuschauertribüne aus beobachtete, schrieb dazu: „Man muss diesen Moment einmal isolieren, in dem man drei Parteien geschlossen einem Satz applaudieren sieht, der nur als Verachtung der Realität großer Teile der Bevölkerung verstanden werden kann und sich der Zustimmung einer Mehrheit im Plenum erfreut.“ Und bevor Sie Angst bekommen, Herr Oberbürgermeister: Ihre Partei gehörte nicht zu den Applaudierenden. Während die Politik also die Armut leugnet oder bestenfalls oft für ihre eigenen, wahltaktischen Zwecke instrumentalisiert, treten Sie, Herr Dr. Schneider, als oberster Lobbyist der Armen auf, und das seit 15 Jahren an der Spitze des Paritätischen. Dass Sie so lange gegen die Borniertheit in der Politik und in Teilen der Gesellschaft kämpfen, halte ich für eine besondere Leistung, für die Ihnen unser Dank gebührt. Dabei berührt mich besonders ein Satz, den Sie gesagt haben: „Man muss sich von Armut berühren lassen.“ „Wer kein Problem dabei empfindet, wenn er sich im Supermarkt an der Fleischtheke bestes Schweinefilet einpacken lässt, während zehn Meter weiter eine alte Frau billigste Nudeln und zwei Eier in ihren Einkaufswagen legt, der wird auch kaum von Armut sprechen.“ Das sagten Sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Anschaulich zeigen Sie auf, was Armut gemessen am Reichtum unserer Gesellschaft bedeutet, und zu ihrer Bekämpfung fordern Sie in einem breiten Bündnis mit verschiedensten Organisationen zum Umfairteilen auf, weil sonst die Gesellschaft, in der wir leben, auseinanderbrechen könnte. Sie werden nicht müde zu erklären, dass das Geld durchaus vorhanden sei, dass der Armut der öffentlichen Hand ein unglaublicher Reichtum in privaten Händen gegenüberstehe, der gerecht besteuert werden müsse. Beeindruckt hat mich persönlich die ausgleichende Art, in der Sie Ihre Forderungen vorbringen. In einem der beiden Gespräche, die wir bislang miteinander führten, erzählten Sie, dass Sie den Eindruck hätten, dass die meisten Besserverdienenden in Deutschland Verständnis für eine höhere Besteuerung zugunsten der Solidarität mit den Armen hätten, es fehle aber der politische Wille, dies umzusetzen. Die Humanistische Union Marburg und die Universitätsstadt Marburg ehren Sie heute auch deshalb, weil Sie sich für diesen politischen Willen einsetzen, weil Sie diesem Kampf immer wieder etwas Positives abgewinnen können, eben weil es Sie innerlich berührt. Und ich finde, die Politik solte Ihrem Urteil vertrauen und die Vermögenssteuer auf vernünftigem Niveau einführen. Denn die Tatsache, dass jemand reich ist, steht einer sozialen Gesinnung schließlich nicht grundsätzlich im Wege.
Vielleicht ist es einfacher, sich von Armut berühren zu lassen, wenn man selbst aus „einfachen Verhältnissen“ kommt. Beim Lesen Ihres Lebenslaufes sind mir parallelen zwischen uns aufgefallen, obwohl Sie mehr als 10 Jahre älter sind als ich. Ihr Vater hat tagsüber als Bierfahrer gearbeitet und nachts bei einer Wach- und Schließgesellschaft. Meine Eltern haben beide – auch mitte der siebziger noch – als Reider und Ausmacher, dem typisch solinger Beruf des Messermachers, bis zu 14 und manchmal 16 Stunden am Tag in Lohnarbeit gearbeitet. Ihre Familie lebte mit 4 Mitgliedern in zwei Zimmern und einer Küche, meine auch. Sie sagten einmal, sie wären nicht wirklich arm gewesen, weil Ihnen der Optimismus nie verloren gegangen sei. Ich verstehe gut, was Sie meinen, und wir haben es auch so gehalten, auch wenn manchmal zwar für die Kinder, nicht aber für die Eltern genug zu essen da war. Wenn man Armut aus der eigenen Nachbarschaft, aus dem eigenen Alltag kennt, hört sie wohl nie auf, einen zu berühren. Die hohe Kunst ist es dann aber, diese Armut nicht nur als brennende Ungerechtigkeit zornig zu verdammen, sondern sie mit wachen Sinnen und klarem Verstand zu benennen und Wege für eine Veränderung der Situation aufzuzeigen. In diesem Punkt kann auch ich von Ihnen noch eine Menge lernen.
Übrigens gibt es Armut, und auch Armut durch Arbeitslosigkeit, in vielen Facetten. Gerade auch unter Schwerbehinderten ist sie besonders hoch. Die offizielle Arbeitslosenquote bei Schwerbehinderten liegt bei 14,5 %, doch die Zahl sagt wenig über die Schicksale der Menschen. Viele behinderte Menschen stehen dem ersten Arbeitsmarkt offiziell nicht zur Verfügung, und zwar obwohl sie eine durchaus gute Qualifikation besitzen. Das kann psychische Ursachen haben, die sozusagen als Sekundärprobleme der Behinderung auftreten, weil man sich ständig mit einer Gesellschaft auseinandersetzen muss, die einem nichts zutraut und Hilfe verweigert. Ich kenne aber auch gut qualifizierte Menschen mit Behinderung, die sich jahrelang bewerben – zum Beispiel als Erzieherin – die aber dann abgelehnt werden, weil man ihnen nicht zutraut, mit Kindern zu arbeiten. Trotz Ihrer fachlichen Qualifikation müssen Sie immer gegen eine Mauer des Misstrauens oder der Herablassung ankämpfen.
Ich kenne eine Masseurin, der man das Abschlusspraktikum ihrer Ausbildung in einer Klinik mit den Worten verweigerte: „Wir nehmen keine Blinden, vor 20 Jahren hatten wir schon mal einen, den unsere Mitarbeiter immer von Raum zu Raum führen mussten. Das wollen wir nicht mehr.“ Die blinde Bewerberin konnte noch so oft versichern, dass sie ein gutes Orientierungsvermögen besitzt, dass sie selbstständig leben und arbeiten kann, man glaubte ihr einfach nicht. So erleben Behinderte häufige grenzenlose Ignoranz und Überheblichkeit. Das Problem der Armut und der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen wird oft nur von der technischen Seite und von der Seite der Qualifikation aus betrachtet, die menschliche Problematik steht dahinter leider oft zurück. Doch aus dieser hohen Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen entsteht ebenfalls Armut.
Es geht um die Frage, wie arme Menschen in unserer Gesellschaft gesehen und behandelt werden. Bitte erlauben Sie mir ein persönliches Erlebnis zu schildern, auch um die Notwendigkeit der Arbeit, die Herr Dr. Schneider täglich leistet, illustrieren zu können: Ich bin selbst erwerbslos und arbeite ehrenamtlich als Journalist. Vor einigen Wochen ging ich daher mit meiner Frau ins hiesige Kreisjobcenter, um den Folgeantrag auf Bezug von ALG II für die nächsten 6 Monate zu stellen. Es gab neue, zusätzliche Formulare, die ausgefüllt werden mussten, offenbar weil irgendwo auf politischer Ebene ein Anstieg des Missbrauchs von Sozialleistungen befürchtet wird. Nun fragte uns die freundliche, kompetente Jobcentermitarbeiterin geschäftsmäßig: „Haben Sie Bargeld dabei, und wenn ja, wie viel?“ Die Frage kam völlig unerwartet und traf mich unvorbereitet. Meine Frau fragte geistesgegenwärtig, ob wir diese Frage wirklich beantworten müssten. Das sei jetzt so gesetzlich vorgeschrieben, antwortete die freundliche und kompetente Mitarbeiterin. In meinem Kopf hätte die nächste Anweisung lauten müssen: „Leeren Sie Ihre Taschen aus, dann die Hände mit den Handflächen auf den Tisch legen und ganz ruhig stehenbleiben.“ Ich war erstaunt, als keine Handschellen klickten. Dass man Angaben macht über sein Konto, über Sparguthaben, über Vermögenswerte, an all das haben wir uns längst gewöhnt. Es ist die resignierende Gewöhnung desjenigen, der weiß, dass er nichts dagegen tun kann, dass man ihm zeigen will, dass er nichts besseres verdient. Aber die Frage nach dem Bargeld in der Tasche, das man bei sich trägt, um eine Kleinigkeit zum Essen zu kaufen, um ein Taxi zu bezahlen, um eine Packung Zigarretten zu ziehen, geht tief ins Private hinein. Jemand greift dir in die Tasche und zählt dein Geld, schaut, welche Wertsachen du besitzt. Kannst du wirklich arm sein, Anspruch auf Unterstützung haben, wenn du 50 Euro in der Tasche hast? Und wenn du 350 Euro dabei hast, um dir im Anschluss eine neue, kleine, gebrauchte Waschmaschine zu kaufen, ist das dann zu viel? Musst du demnächst auch noch angeben, wofür du das Kleingeld in deiner Tasche brauchst? In den Köpfen vieler Betroffener findet eine zunehmende Entrechtung und Entwürdigung von Menschen ohne Arbeit statt. Diese Menschen haben keine Lobby, werden nicht direkt von Gewerkschaften vertreten, oder nur insofern, als sie einmal Arbeitnehmer waren und es hoffentlich bald wieder werden. Doch es gibt eine Gesellschaft jenseits der Arbeit, es geht um die Würde der Menschen an sich, die angetastet wird, nur weil sie arm und auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Weil dies in unserem Land nicht nur geschieht, sondern auch geduldet wird, ist eine Lobbyarbeit für Menschen in der Armutsfalle so wichtig, eine Lobbyarbeit, die von Herzen kommt, die ehrlich und aufrichtig ist, die zu überzeugen sucht, anstatt neue Gräben aufzureißen. Für all das stehen Sie, Herr Dr. Schneider, und auch dafür erhalten Sie diese Auszeichnung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren: Das marburger Leuchtfeuer ist ein Preis für soziale Bürgerrechte. Seit 10 Jahren ehren die humanistische Union – Deutschlands älteste Bürgerrechtsorganisation – und die Universitätsstadt Marburg gemeinsam Menschen, die sich für scheinbar selbstverständliche Dinge einsetzen: Teilhabe jedes Menschen an den Segnungen dieser reichen Gesellschaft, Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Arbeit, mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund. Dieser Preis ist eine kleine Anerkennung für solidarisches, mitmenschliches Handeln, für Lebenswerke und Menschen, die oft durch ihre einfachheit und Natürlichkeit beeindrucken. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Armut führt auch immer zu einer Auseinandersetzung mit sozialen Bürgerrechten. Das Marburger Leuchtfeuer sorgt dafür, dass diese Bürgerrechte nicht vergessen werden, während seit Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung nur die Krise dominiert.
Verehrter Herr Dr. Schneider, Lassen Sie mich zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung machen: Zweimal habe ich mit Ihnen bislang ein Interview geführt. Beim ersten Gespräch ging es um Ihre Forderung nach einer Reform des Arbeitslosengeldes I, in unserem zweiten Gespräch stellten Sie das Bündnis UmFairTeilen vor. Ich habe nie mit einem Interviewpartner gesprochen, der so direkt, so ungekünstelt, so klar, einfach und verständlich gesprochen hat. Das hat mich schon damals sehr beeindruckt. Inzwischen weiß ich, warum das so ist: Ihre Frau ist Fernsehjournalistin, und Sie haben gelernt, kurze Sätze zu verwenden, damit sie nicht rausgeschnitten werden. Und Sie haben sich in Journalismusseminaren für Interviews zur Verfügung gestellt. Ihr Stil hebt sich wohltuend ab von vielen anderen Interviews, die ich im Bereich Politik und auch bei sozialen Organisationen geführt habe. Sie haben eine fantastische Art, Ihre Ansichten zu vermitteln, Probleme und komplizierte Zusammenhänge einfach darzustellen. Mit Ihrer Arbeit und Ihrem persönlichen Einsatz sind Sie ein Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte, oder sagen wir es ganz banal: Armut berührt Sie einfach immer noch.
Vielen Dank