Prof. Dr. Stefan Selke hielt am 8. Mai 2015 die Laudatio auf die Preisträgerin Inge Hannemann.
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Mitglieder der Humanistischen Union und des Magistrats der Universitätsstadt Marburg, liebe Gäste, liebe Inge Hannemann,
ich danke Ihnen für die Einladung und den damit verbundenen Auftrag, die Laudatio für die diesjährige Preisträgerin des „Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte“, Inge Hannemann, zu halten. Ich habe es mir dabei nicht leicht gemacht.
Um die Preisträgerin zu würdigen, möchte ich übergreifend fragen, wo eigentlich der Unterschied zwischen einem Verräter und einem Enthüller liegt. Wir sprechen seit Edward Snowden, vor allem aber seit dem German-Wings-Absturz, von der Bedeutung von Geheimnissen sowie der Notwendigkeit der Schweigepflicht. Was aber, wenn nicht geschwiegen wird? Wann ist das Verrat, wann Enthüllung?
Die Frage, wo die Grenze zwischen destruktivem Verrat und konstruktiver Enthüllung liegt, ist keineswegs einfach zu beantworten. Will man vorschnelle Moralisierungen vermeiden, ist zur Beantwortung der Frage ein Hinabtauchen in die Elementarstrukturen gesellschaftlicher Beziehungen notwendig. Als Soziologe, der sich schwerpunktmäßig mit Phänomenen des „gesellschaftlichen Wandels“ beschäftigt, möchte ich daher einige Entwicklungen nachzeichnen und dadurch das, was die Preisträgerin, Inge Hannemann, als Enthüllerin auszeichnet, in einen größeren Kontext stellen.
Was Inge Hannemann auszeichnet, möchte ich in einem Bild ausdrücken: Sie ist dem „Monster des Bodenlosen“ begegnet. Und sie hat weder weggeschaut, noch ist sie vor Schreck weggelaufen.
Als wir uns das erste Mal am Rande eines Kirchentages in Hamburg in einer Kneipe begegneten, konnte ich während und nach unserem atemlosen Gespräch schon einiges von dem Mut erahnen, den es braucht, um dem „Monster des Bodenlosen“ auf eine statthafte Weise zu begegnen. Auf diesem Mut der Preisträgerin werde ich später noch einmal zurückkommen.
Vielleicht sollte ich kurz erläutern, warum ich hier eine sehr bildhafte Sprache nutze. Natürlich gibt es für die Entwicklungen, deren Zeugen wir gegenwärtig sind, zahlreiche durchdefinierte Fachbegriffe: Erosion des Sozialstaates, Prekarisierung, Gouvernementalität usf. Aber diese Begriffe verbergen in ihrer vermeintlich objektivierten Sachlichkeit zugleich die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Skandale.
Ich bevorzuge es daher, vom „Monster des Bodenlosen“ zu sprechen, um damit die allgegenwärtigen Abbaumaßnahmen, Sparmaßnahmen, Disziplinierungsmaßnahmen und Entwürdigungsmaßnahmen zu beschreiben, mit denen immer mehr Menschen existentiell in Bedrängnis gebracht werden. Akzeptiert man dieses Bild, dann stellt sich folgende Frage: Was macht dieses Monster so erschreckend?
Hier möchte ich noch ein wenig tiefer in den Werkzeugkoffer der soziologischen Gesellschaftsdiagnose greifen. Menschen werden in unserer Gesellschaft immer intensiver zu fortwährender Bewährungsarbeit am eigenen „Ich“ gedrillt. Inge Hannemann war beruflich Teil dieses bürokratisierten Drills. Aber anders als viele andere hat sie eine persönliche Grenze gezogen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Unser Land kühl sich sozial immer mehr ab, es verroht. Wir können es daran erkennen, das diejenigen, die dem Drill nicht gehorchen können, vom „Monster des Bodenlosen“ immer gnadenloser angefaucht werden. Wir können beobachten, dass immer häufiger Menschen für die Abweichung von Erwartungen bestraft werden.
Gesellschaft wird zunehmend über negative Prinzipien organisiert: über Beschämung und über Sanktionen für diejenigen, die nicht so sein wollen oder können, wie man es von ihnen verlangt.
Eigentlich sollte die Würde aller Menschen per Gesetz gewahrt werden. Doch tatsächlich müssen immer mehr Menschen mit systematischen Kränkungen, tiefgreifenden Pathologisierungen und nachhaltigen Stigmatisierungen umgehen. Oder sich daran erschöpfen. Soziale Erschöpfung ist die Angst vor dem Monster des Bodenlosen und nicht so sehr die Tatsache, materiell schlechter gestellt zu sein.
Wenn die Organisation des Sozialen immer deckungsgleicher mit dem Eingriff in den Vollzug des Lebens selbst wird, unterliegen nicht nur Ausschnitte, sondern tendenziell alle Lebensbereiche dem neuen Drill. Dieser kontrollierende Vollzug des Lebens verschafft sich einerseits Zugriff auf die gesamte Persönlichkeit und sieht andererseits den Menschen schlicht als das an, was von ihm erwartbar ist.
Und genau dieser drillende Vollzug zeigte sich besonders deutlich am Arbeitsplatz von Inge Hannemann. Sanktionen im Hartz-IV-Bereich sind der Praxis gewordene Ausdruck dieses Denkens.
Als Mitarbeiterin des Hamburger JobCenters konnte Inge Hannemann beobachten, wie Nützlichkeitsdenken, Kosten-Nutzen-Analysen und Effizienzberechnungen sich in der Praxis vor die Beratung und Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen schoben. An dieser kalten Effizienz in einem Land, in dem Regierung zunehmend durch Selbstregierung ersetzt wird, müssen immer mehr Menschen scheitern. Schlimmer noch: Dieses Scheitern wird ihnen sogar schon unterstellt.
Nichts anderes drückt sich im Konzept der Sanktion aus. Oder darin, dass ganze Bevölkerungsgruppen (z.B. „Hartzer“) kollektiv stigmatisiert werden.
Beispiele, die erkennen lassen, wie sich Misstrauen gegenüber dem Nächsten in unsere Kultur eingeschrieben hat. Menschen werden in „Würdige“ und „Unwürdige“ kategorisiert. Es kommt zu einer vormodernen Moralisierung von Armut und zu Phänomenen neo-feudaler Armutslinderung.
Letztlich entsteht in diesem Vollzug des Drills eine eigene Denkhaltung: Integration soll mit Disziplinierung erzwungen werden. Wer sich nicht diszipliniert, wird sanktioniert.
Doch damit nicht genug. Es gibt noch einen Nebeneffekt, der bislang zu wenig beachtet wurde: Mit Sanktionen lässt sich prima Profit machen.
In Großbritannien traf ich zu Beginn des Jahres in Cambridge den Schatten-Arbeitsminister Steven Timms. Er erklärte mir, dass das Erfolgskriterium in den britischen Jobcentern nicht etwa in der Zahl der vermittelten Erwerbsarbeitsplätze gemessen wird, sondern in der Summe der durchgesetzten Sanktionen!
Der Staat rechnet die durch Sanktionen gesparten Summen in seinen Haushalt ein. Timms sprach zu Recht von der neuen „Sanktionsindustrie“. Die
Kalkulierbarkeit von Sanktionen ist das denkbar schlimmste Gegenmodell zu einer menschenwürdigen Sozialpolitik. Die Preisträgerin Inge Hannemann sah genau dieses „Monster des Bodenlosen“ ganz konkret und direkt an ihrem Arbeitsplatz, dem Jobcenter Hamburg-Altona, auftauchen.
Normalerweise läuft man vor Monstern weg, verdrängt, verschweigt, vertuscht. Aber genau das – das allgegenwärtige Verdrängen, Verschweigen, Vertuschen – konnte Inge Hannemann nicht ertragen. Sie weigerte sich, Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose zu verhängen, wurde daraufhin vom Dienst suspendiert und versetzt.
Ein Rechtsstreit folgte. „Ich bin raus, weil ich Missstände öffentlich gemacht habe“, so Inge Hannemann im Gerichtssaal. „Es wäre nichts passiert, wenn ich Dienst nach Vorschrift gemacht hätte.“
Ihre Kritik am menschenunwürdigen Umgang mit Langzeitarbeitslosen brachte ihr überregionale Popularität und den Spitznamen „Hartz-IV-Rebellin“ ein. Eine Rebellin also, die (in meinen Worten) vor dem „Monster des Bodenlosen“ nicht weglaufen ist wie andere.
Das allein würde schon reichen, um sie auszuzeichnen. Trotzdem möchte ich noch einmal zu der tiefergehenden Frage zurückkommen, worin eigentlich der Unterschied zwischen einem Verräter und einem Enthüller besteht.
Die Antwort auf diese Frage kann nicht trivial ausfallen. Immerhin habe ich aber dazu eine These.
Sie lautet: Enthüllung setzt eine Lüge voraus, ein bewusst gewolltes Täuschen. Verrat setzt ein Geheimnis voraus, ein bewusst gewolltes Verbergen.
Im Folgenden werde ich das nun kurz erläutern. Dazu ziehe ich Georg Simmel, einen der Gründerväter der Soziologie, zu Rate. In seinem Hauptwerk sinniert er unter anderem über Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Tatsache, dass soziale Beziehungen darauf beruhen, dass wir etwas voneinander wissen. Aber wie viel wissen wir von anderen? Wie viel wollen wir wissen? Wie viel dürfen wir wissen?
Dort, wo wir nicht völlig wissend, aber auch nicht völlig unwissend sind, müssen wir vertrauen. Vertrauen ist der mittlere Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen. „Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen“, so Simmel.
In Gesellschaften, die immer komplexer werden, wird Vertrauen – ob in Technik, ob in Regierungen oder in Verwaltungen – immer notwendiger. Und zugleich wird dieses Vertrauen immer häufiger enttäuscht, weil es nur vorgetäuscht und trick- und gestenreich inszeniert wird.
Genau diese Vortäuschung ist nichts anderes als eine Lüge. Eine Lüge, wie sie von Inge Hannemann enthüllt wurde, weil sie – in ihren eigenen Worten – „einen Missstand öffentlich gemacht hat“.
Dort, wo eine Lüge in soziale Beziehungen eindringt, bröckelt das Vertrauen. Wird eine Lüge sogar Teil des Systems, dann verändert sie ihre Funktion. Georg Simmel wird nicht müde, zu betonen, dass eine Lüge in zwischenmenschlichen Beziehungen (von Angesicht zu Angesicht) sogar recht zweckmäßig sein kann. Als Lehrender, der sich ständig die „“otlügen“ von Studierenden anhören muss, kenne ich mich gut mit dieser Zweckmäßigkeit aus. Letztlich hat aber jeder von uns schon einmal eine solche „Ausrede“ genutzt, eine kleine, harmlose, zweckmäßige Lüge.
Als Teil eines Systems aber mutiert eine fest eingebaute Lüge zu einem perfiden Werkzeug der Regierung. Sie wird zu einem Mittel der „Lenkung und Unterdrückung“ zu einer Art „geistigem Faustrecht“, das destruktiv gegen Mitmenschen eingesetzt wird.
Dieses geistige Faustrecht hat Inge Hannemann erfolgreich „angenagt“ – so bezeichnet Georg Simmel den Akt der Enthüllung. Sie konnte die Lüge „annagen“, weil sie deren unproduktiven und destruktiven Charakter erkannte. Und zwar, weil sie die offizielle Welt kannte und die „Welt hinter der Welt“ – eine Parallelwelt, bewohnt vom „Monster des Bodenlosen“.
Was Inge Hannemann in ihrer Praxis erlebte, die Entpersönlichung von Menschen und damit die Dehumanisierung von Bürgerinnen und Bürgern, ist ein Skandal, der es wert ist, enthüllt zu werden. Aber die eigentliche Diagnose muss noch tiefer zielen. In Behörden, deren heimliches Leitmotiv die Bestrafung der Armen ist, werden Subjekte zu Objekten degradiert.
Die Lüge besteht darin, dies noch euphemistisch als „Dienst am Kunden“ oder „Umgang mit Klienten“ auszuweisen. Das „Monster des Bodenlosen“ ist letztlich die Tatsache, dass dies keinem Zufallsprinzip, sondern einem Prinzip geschuldet ist.
Wie schon Simmel deutlich machte, hat dieses Prinzip weitreichende Folgen: Mit Menschen, denen man die Persönlichkeit raubt, „wird (…) viel rücksichtsloser, viel gleichgültiger (…) verfahren.“ Und eine strenge Ordnung hält für jeden nur ein „stilisiertes Gewand bereit, in dem seine persönlichen Umrisse verschwinden.“
Diese „Ausschaltung der differenzierten Persönlichkeit“ führt zu Gleichgültigkeit, zu einer Gesellschaft, deren Herz erkaltet. Und die Entpersönlichung mündet letztlich in Verantwortungslosigkeit.
Genau dagegen hat Inge Hannemann erfolgreich protestiert, indem sie die Lüge enthüllt hat, ohne ein Geheimnis zu verraten. In der Bürokratie der Jobcenter geht es nicht um Staats- oder Betriebsgeheimnisse, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Vielmehr geht es um Lügen, die uns über die längst fortgeschrittene moralische Korrumpierung täuschen sollen. Die moralische Korrumpierung besteht im Kern darin, die eigenen Bürgerinnen und Bürger zu „Feinden“ zu erklären.
Das Wissen darüber und dessen rebellische Enthüllung machte Inge Hannemann zu einer Person, die uns die Chance bietet, die eigene Gesellschaft – und damit auch uns – wieder ein wenig besser zu verstehen. Das verdient Anerkennung und Lob. Auf dieses Lob bin ich immer wieder gestoßen: Schlage ich eine Zeitschrift auf, in der ich einen Artikel veröffentlicht habe – wer schreibt ebenfalls dort? Inge Hannemann. Halte ich einen Vortrag in einer x-beliebigen Stadt, fragt man mich, wer dort eine Woche zuvor geredet hat. Inge Hannemann.
Und immer tauchen dabei Anerkennung und Lob darüber auf, dass jemand mal nicht vor dem „Monster des Bodenlosen“ weggelaufen ist. Vielmehr redete Inge Hannemann mit denjenigen Menschen, die von dem neuen System direkt betroffen sind.
Als wir uns das erste Mal trafen, waren schon die Spuren einer langen Serie von Erfahrungen am Rande der Irrationalität ihrer Behörde zu spüren. Niederlagen dort, wo sie sich Siege erhofft hatte.
Sie war voll mit einem unfassbarem Stauen darüber, wie ihre direkte, gleichgeschaltete Umgebung überhaupt nicht mit ihrer rebellischen Einstellung umgehen konnte. Und sie war voll mit einer wunderbaren, lebendigen, gesunden Wut.
Damals, in der Hamburger Kneipe, zitiert ich für sie Kalle Lasn (einen Globalisierungskritiker): „Wut ist das einzig ehrliche Gefühl“. Die Wut von Inge Hannemann ist deshalb so ehrlich, weil sie besser als andere das „Monster des Bodenlosen“ aus unmittelbarer Anschauung kennt.
Aber den Kern dessen, was wir heute hier auszeichnen, habe ich immer noch nicht berührt. Ich möchte es in einem abschließenden Satz zumindest andeuten:
Das Problem unseres Staates besteht darin, dass statt Menschlichkeit Recht zur Anwendung kommt. Die edelste Form von Menschlichkeit besteht aber im Verzicht darauf, recht zu haben.
Exakt das ist es, was Inge Hannemann auszeichnet: der ganz praktische Verzicht darauf, recht zu haben und stattdessen Menschlichkeit walten zu lassen. Exakt für diese Lehre, diesen Akt praktischer Enthüllung, und diese Form der Zivilcourage sind wir alle Inge Hannemann zu großem Dank verpflichtet!
Liebe Inge, ich gratuliere dir zu deiner Auszeichnung, dem Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte! Alles Gute für deine weitere Arbeit als Rebellin! Unser Land braucht diese Form der Rebellion mehr als vieles andere.