Mit dem Marburger Leuchtfeuer 2015 würdigt die Jury Inge Hannemann als leuchtendes Beispiel für den Aufrechten Gang beim Einsatz für Soziale Bürgerrechte. Ihr Engagement für die Würde der Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) ist ein Vorbild für gelebte Zivilcourage.
Als Mitarbeiterin eines Hamburger JobCenters hat sich Inge Hannemann geweigert, Leistungsbezieher mit Sanktionen zu drangsalieren, um sie so gefügig und mürbe zu machen. Die Anwendung von Sanktionen betrachtet sie als letztes Mittel im Katalog der Verwaltungsmaßnahmen im Umgang mit Beziehern von „Hartz IV“. Eine unverhältnismäßige Anwendung von Sanktionen lehnt sie ab.
„Allein die Zunahme der Zahl der Sanktionen bis zum heutigen Tag zeigt, worauf der Schwerpunkt gelegt wird: Auf Maßregelung und Bestrafung“, erläutert Hannemann. Dieser Entwicklung wollte sie aus der Behörde heraus entgegentreten.
Auslöser war allerdings nicht ein einziges herausragendes Ereignis, sondern die Summe der Erfahrungen: „Es gab viele einschneidende Erlebnisse“, erklärt Hannemann selbst. „Diese Eindrücke sammelten sich über die Jahre an und bewirkten, dass mein eigener innerer Druck so groß wurde, dass er auf irgendeine Weise abgebaut werden musste.“
Ihre Überzeugung hat sie auch unter Druck aufrechterhalten. Für ihre Verweigerung einer Mithilfe an einem häufig unmenschlichen Sanktionsregime hat die Verwaltungsmitarbeiterin erhebliche berufliche und persönliche Nachteile in Kauf genommen.
Ihrer Ansicht nach war es nötig, das System von innen heraus zu kritisieren. Nur so könne sie die „unsichtbare innere Mauer“ durchbrechen, die das Hartz-Regime vor öffentlicher Kritik abschottet. In diesem konsequenten Verhalten sieht die Jury ein mutiges Zeichen persönlichen Engagements für die Sozialen Bürgerrechte gesellschaftlich benachteiligter Menschen.
Als „Whistleblowerin“ hat Inge Hannemann die Öffentlichkeit über ungerechte Verhältnisse in den JobCentern und bei der Praxis des Umgangs mit Leistungsberechtigten aufgeklärt. Auch dabei bewies sie Mut und Rückgrat. Ohne ihre Zivilcourage hätte die Gesellschaft möglicherweise nichts erfahren über die – eines Sozialen Rechtsstaats unwürdigen – Auswüchse der Hartz-Praxis.
„Wir sollten nie vergessen: Jeden von uns trennen nur zwölf Monate vom Ausschluss aus der Gesellschaft über Hartz IV. Die Agenda 2010 hat einen gesellschaftlichen Sozialabbau bewirkt, in dem der Mensch auf der Strecke bleibt. Kurzum, wir benötigen dringender denn je eine Änderung der sozialen Verantwortung gegenüber allen Menschen unserer Gesellschaft.“
In Inge Hannemann sieht die Jury eine würdige Fortführung der Tradition des Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte als Auszeichnung für herausragendes Engagement zugunsten benachteiligter Menschen und ihrer Grundrechte. Der Einsatz für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen ohne Ansehen ihrer gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Stellung ist bei ihr gepaart mit Zivilcourage und der Bereitschaft, die eigene gesellschaftliche und berufliche Position notfalls dem Eintreten für ihre Überzeugung unterzuordnen. In dieser Grundhaltung sieht die Jury ein leuchtendes Vorbild für bürgerschaftliches Engagement zugunsten des im Grundgesetz verankerten Sozial- und Rechtsstaatsgebots.
Jürgen Neitzel
Marburger Leuchtfeuer 2015 – Preisverleihungsbegründung Jürgen Neitzel/a>