Mit Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter ehrt die Jury einen vielseitigen Menschen, der sich zeitlebens für soziales Mitgefühl, die seelische Gesundheit der Menschen und den Frieden zwischen den Völkern eingesetzt hat. Der Respekt vor seinen Mitmenschen – ungeachtet ihrer sozialen Stellung, ihrer gesundheitlichen Disposition oder ihrer Nationalität – war für ihn zugleich Auftrag und Motiv seines ärztlichen, wissenschaftlichen und politischen Wirkens.
Richter begreift sein soziales Engagement so praktisch wie politisch: Zusammen mit der Initiativgruppe Eulenkopf und einem neu gewählten Mieterrat der sozial ausgegrenzten Gießener Siedlung hat er 1970 das Gespräch mit dem damaligen Oberbürgermeister Bernd Schneider gesucht.
Seither hat er dort ein Obdachlosen-Projekt unterstützt. Seinen 85. Geburtstag hat Richter gemeinsam mit den Menschen am Eulenkopf gefeiert.
Damit hat er die Achtung vor dem gleichen Wert aller Menschen nicht nur eingefordert; vielmehr hat er sie selbst in vorbildlicher Weise gelebt. Inzwischen verbindet ihn eine langjährige, persönliche Beziehung zu einigen der Obdachlosen.
Ein weiteres Beispiel seines sozialen Engagements ist Richters Einsatz für die seelische Gesundheit von Menschen. Insbesondere den Problemen in Familien widmete er sein Augenmerk. Die „Vererbung“ von Traumatisierungen durch Gewalterfahrungen hat er erforscht und therapiert.
Richter hat sich für eine „Soziale Psychiatrie“ eingesetzt. Darin werden Menschen nicht weggesperrt und ihrer Bürgerrechte beraubt. Sie versucht, den Ursachen seelischer Erkrankungen auf den Grund zu gehen. Schon in den 50er Jahren hat er die Beratung psychisch erkrankter Menschen zu einem seiner Arbeitsschwerpunkte gemacht.
Drei Jahrzehnte lang war Richter Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Als ein Wegbereiter der Psychosomatik verankerte er diese Fachrichtung in der medizinischen Ausbildung und der klinischen Praxis.
Damit verhalf er den – in den 70er Jahren aufgekommenen – humanistischen Konzepten zum Durchbruch. Das Absondern von Menschen, die in der Leistungsgesellschaft nicht allezeit zurechtkamen, wurde dabei ersetzt durch ein einfühlendes und zugewandtes therapeutisches Vorgehen.
Richters friedenspolitischen Engagement liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine nicht gewaltsame Lebenspraxis Voraussetzungen hat. Dazu gehört, dass der Einfluss militärischer Konfliktlösungsstrategien zurückgedrängt werden muss, wenn man einen friedlichen Umgang der Menschen miteinander anstrebt.
„Das gesunde Bewusstsein, in der globalisierten Welt durchgehend aufeinander angewiesen zu sein, in Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung – das war die gemeinsame Erkenntnis, die Vision psychischer Gesundheit in internationaler Dimension“, fasste Richter selbst seine Überzeugung in Worte.
Die von ihm in Deutschland mitgegründete Internationale Ärztevereinigung gegen den Atomkrieg (IPPNW) hat 1985 den Friedensnobelpreis erhalten. Als deren Mitbegründer und Ehrenvorsitzender war Richter maßgeblich an diesem Erfolg beteiligt.
Auch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Gießen zeugt von dem hohen Respekt, den Richter genießt. Dass er diesen Respekt genauso auch anderen – ohne Ansehen ihrer gesellschaftlichen Stellung – zollt, ist bemerkenswert!
Über viele Jahrzehnte hinweg hat Richter die Gesellschaft in der Bundesrepublik durch seine Veröffentlichungen und sein Engagement mitgeprägt. Sein ausstrahlungskräftiges Vorbild ist Grund für die Auszeichnung mit dem Marburger Leuchtfeuer 2010. Jürgen Neitzel