Egon Vaupel: Serpil Unvar engagiert sich konstruktiv

Egon Vaupel

Egon Vaupel trägt Preisbegründung vor.

Die Preisbegründung der Jury zum Marburger Leuchtfeuer 2023 hat Egon Vaupel am 20. Juli 2023 vorgetragen.

Das „Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte“ 2023 erhält Serpil Teniz Unvar aus Hanau für ihr vorbildliches Engagement zugunsten einer Bildung ohne Rassismus. Die mangelnde Bildungsgerechtigkeit in Deutschland allein wäre bereits eine wichtige Ursache zur Gründung solch einer Initiative; doch die Gründe für die Stiftung „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ reichen noch wesentlich tiefer. Ausgehend von einer blutigen Mordtat, wendet sich diese Initiative der großen und großartigen Aufgabe zu, in Deutschland eine bessere Zukunft für alle zu entwickeln. Die Benachteiligung von Kindern angeblich „bildungsferner“ Familien in Schule und Studium wurde vielfach beklagt. Die Ausgrenzung von Menschen mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“ ist ebenfalls ein lange bekanntes Problem. Die Bildungsinitiative wendet sich gleichzeitig gegen diese beiden Mißstände.
Dass die Initiative zu dieser Stiftung von einer Frau mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“ kommt, ist ebenso erfreulich wie ermutigend. Serpil Unvar zeigt damit vielen Menschen die Chancen auf, sich selbst mit dem Eintreten für ihre wichtigen Anliegen zu ermächtigen und weitere Menschen mitzunehmen auf diesen – sicherlich nicht immer leichten – Weg.
Serpil Unvar hat die Jury mit ihrem Engagement gegen Hass und Rassismus sehr beeindruckend überzeugt. Nach den Morden vom 19. Februar 2020 hat sie eine Bildungsstiftung gegen Rassismus gegründet. Die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ ist nach ihrem Sohn Ferhat benannt, dessen Vermächtnis – sein Wunsch nach Bildung – von seiner Mutter damit posthum weitergetragen wird.
Ferhat Unvar ist einer der neun jungen Menschen, die bei dem rassistischen Attentat am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet wurden. Mit Hilfe der Stiftung möchte seine Mutter Hass und Rassismus konstruktiv mit Aufklärung und Menschlichkeit begegnen. Ziel der Stiftung ist es, von Rassismus betroffene Jugendliche und junge Erwachsene dabei zu unterstützen, eigene Bedürfnisse zu formulieren und Chancengleichheit einzufordern.
Dass sich Serpil Unvar nicht in Hass und Groll zurückgezogen hat, sondern mit der Bildungsinitiative den Wunsch ihres Sohnes konstruktiv zugunsten der Gesellschaft umsetzt, das zeugt von menschlicher Größe und Mut. Sie hätte auch – wie andere Angehörige von Betroffenen – ihren berechtigten Zorn und ihre Wut in die Aufklärung des menschenverachtenden Verbrechens und des beschämenden Versagens der Polizei und anderer Behörden lenken können. Diese Aufklärungsarbeit, die die Initiative 19. Februar Hanau auf beeindruckende Weise leistet, ist nicht nur berechtigt, sondern leider auch notwendig für die Läuterung der Demokratie in Hessen und darüber hinaus.
Gerade aber auch angesichts der erschreckenden Ergebnisse dieser Aufklärungsarbeit mit Hilfe der Gruppe „Forensic Architecture“ ist es umso bewundernswerter, dass Serpil Unvar ihre Energie in Bildungsarbeit für junge Menschen lenkt. Teilnehmende an Aktivitäten der Bildungsinitiative haben ihren Besuch bei der Preisverleihung angekündigt. Bei den meisten handelt es sich um junge Menschen mit Migrationshintergrund aus Hanau.
Ihnen und allen Unterstützenden der Bildungsinitiative dankt die Jury ausdrücklich für die Mitwirkung an dem diesmal preisgekrönten Werk. Sie alle sollten das „Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte“ auch als eine Würdigung ihres eigenen Einsatzes gegen Rassismus und für die Bildung junger Menschen verstehen. Serpil Unvar kann nicht nur ihnen als leuchtendes Vorbild dienen, zumal sie für dieses Engagement auch heftige Anfeindungen in Kauf nehmen musste. Die wiederholte Bedrohung der diesjährigen Preisträgerin durch den –
offenbar ebenfalls rassistischen – Vater des Mörders hat sie nicht einschüchtern können. Dieser Mut und dieses beharrliche Eintreten für ihr Herzensanliegen erfüllen die Jury mit Dankbarkeit und Bewunderung. Scham empfindet die Jury angesichts des fortdauernden Versagens der Behörden in Hessen, die die Vertuschung eigenen Versagens anscheinend vorrangig behandelt, anstatt den Schmerz der Angehörigen und die Trauer um ihre Lieben durch Taten anzuerkennen.
Dass diese Trauer sich aber dem Leben zuwenden kann, das hat Serpil Teniz Unvar auf berührende Weise vorgelebt. Ihr konsequentes und konstruktives Eintreten für Menschlichkeit, gegen Hass und Rassismus ist ein strahlendes Leuchtfeuer der Humanität in Zeiten von Verrohung und rechter Gewalt.

Egon Vaupel